Chaos und Löwenmäulchen

Chaos und Löwenmäulchen

30. November 2021

Letzten Freitag waren alle Zweige und Äste der Doppellinde, die unserem Haus gegenüber steht, bis in die kleinsten Verästelungen weiß ummantelt – da hatte sich der tagelange zähe Hochnebel in Eiskristalle verwandelt und in feinen Lagen um die Äste gewickelt. Kurz darauf begann es zu schneien, zunächst dünn und zögerlich, tags darauf in dicken Flocken. Der Baumzauber war schnell dahin, der zähe graue Novembernebel abgelöst vom Weiß über Weiß, vorübergehend. Auch damit ist es schon wieder aus. Heute toben hier Sturmböen, treiben große Schneefahnen hoch, verwehen die Grenzen zwischen Straßen, Feldern und Böschungen. Schneenebel, Chaos, Unfallwetter. Die meisten Vögel haben sich weggeduckt. Ihre Anmut: wie sie sich aufplustern, sich aufschwingen, durch Schneeflockenwirbel schlüpfen, täuscht ohnehin oft darüber hinweg, wie hart sie täglich aufs Neue um die bloße Sicherung ihres Überlebens kämpfen müssen, besonders im Winter. Das Rotkehlchen zum Beispiel.

Kurz vor dem großen Schneetreiben fand ich neben einer Auffahrt im Nachbardorf ein Stillleben, im Grunde ein Anti-Stillleben, das ich nur gegen innere Widerstände über diesen Beitrag setzen kann. Setzen muss, denn es ist so kennzeichnend für das, was wir noch zulassen an Natur. Statt Zaun eine sogenannte Gabione: zwei Eisenstabmatten, der Zwischenraum mit Bruchsteinen hoch angefüllt und mit Maschendraht überzogen. Davor, zwischen Schneelachen, ein rosafarbenes Löwenmäulchen, keine Wild-, sondern eine Gärtnerpflanze. Aufrecht, blühend, frierend, gerade noch so der Stein&Stahlwüste entkommen. Versprengter Fremdling. Dennoch voll Farbe und Licht.

Sonnenaufgang im Nebel

Sonst ist Lichtvolles wenig zu berichten, insbesondere nicht aus der großen weiten Vogelwelt. Zumal ich durch eine RS-Grippe wochenlang lahmgelegt war.
Die Pandemie läuft weiter zu großer Form auf. Nach der Delta-Mutante ist gerade eine sogenannte Omikron-Mutante aufgetaucht. Corona Corona überall. Der nächste Lockdown steht vor der Tür und das in einer Jahreszeit, in der das Licht täglich um ein Stückchen mehr schwindet.

Darüber wird die Dramatik dessen, was uns alle viel stärker noch an den Rand des Abgrunds bringt: Stickstoffüberschuss, Klimawandel und vor allem Verlust der Artenvielfalt hartnäckig übersehen, dringt nicht wirklich ins Bewusstsein vor. Dass es sich nicht bloß um „die Anderen“ handelt, um das Verschwinden von beispielsweise Gelbbauchunke, Feldhamster, Großem Brachvogel, die leider kaum noch jemand kennt, sondern um Menetekel, die das Zusammenkrachen großer voneinander abhängiger Komplexe, das sechste Massenaussterben der Erdgeschichte anzeigen, wird nicht zur Kenntnis genommen. Und schon gar nicht, dass wir mittendrin stecken im Chaos, jeder Einzelne. Apokalypsenblindheit hat Günter Anders das schon vor 25 Jahren genannt.

Nun ist Chaos ja eine Lebenskraft, die uranfängliche Formlosigkeit und Dunkelheit, aus der allein Neues aufgebaut werden konnte und kann. Aber was heißt das für uns und unsere gegenwärtige Welt, in der alte Sicherheiten und Gewissheiten schwinden wie Schnee an der Sonne? Und was vermag dabei ein Löwenmäulchen auszurichten, das den Steinen sein Leben abtrotzt? Oder ist das auch bloß eine irreführende Chiffre?
„Du musst das Chaos in dir haben, um einen tanzenden Stern zu gebären“, hat Nietzsche gesagt.
Das klingt schön. Das klingt erschreckend.
Was geschieht mit uns, was müssen wir geschehen lassen, wenn erst auf einer so hohen Ebene Hoffnungslosigkeit ausgeschlossen werden kann?

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