Vogelgesänge – eine Einführung

Amselmännchen im März

Vogelgesänge – eine Einführung

Für viele Menschen ist das, was die Vögel von sich geben, Hintergrundgeräusch, im besten Fall Piepsen oder Zwitschern. Für die Vogelkundler rufen oder singen die Vögel, und ihr Gesang dient allein der Revierbehauptung und Weibchenanlockung.

Durch mein eigenes jahrelanges intensives Lauschen bin ich davon überzeugt, dass Vogelgesänge zwar a u c h diese Funktion haben – aber dafür allein würden schon ein paar Schreie, Krächzer, Piepser ausreichen – unterschieden durch Tonhöhe, Klangfarbe, Lautstärke, Länge. Und was immer wieder vergessen wird: auch viele Vogelweibchen können singen!

Schon Alwin Voigt schrieb in seinem Exkursionsbuch zum Studium der Vogelstimmen, einem Klassiker, 1894 zum ersten Mal erschienen und seitdem immer wieder neu aufgelegt (auch ich habe es noch als Schülerin mit mir herumgeschleppt): Der Vogel singt infolge geschlechtlicher Erregung, also am fleißigsten, wenn diese ihren höchsten Stand erreicht, zur Zeit der Fortpflanzung – das ist altbekannt. Indessen, wer genauer nachforscht erhält bald Belege genug, dass auch andere Anlässe einen Vogel zum Singen anregen können. … Paarungsrufe von Meisen und Kleibern kann man an jedem schönen Morgen mitten im Winter zu hören bekommen. Oder wer wollte von einer Sangesperiode der Sperlinge reden? Zwar macht sie die Härte des Winters etwas ruhiger, aber sobald ein milder Tag kommt, setzt das Schwatzen in den Morgen- und Abendstunden wieder kräftig ein, und wenn’s einem in der wärmenden Sonne recht behaglich wird, stammelt er auch ein Liedchen.

♫ Haussperlinge, auf Büschen hockend und im großen Chor sonnenselig singend und schwatzend ♫

Tatsache ist, dass große Sänger wie Drosselvögel, Stare, Grasmücken, Spötter Frühjahr für Frühjahr neue Motive entwickeln und weiter variieren, dass sie modifizieren, imitieren, komponieren. Dafür wachsen ihnen sogar neue graue Hirnzellen – für Zebrafinken ist das belegt.

Olivier Messiaen, ein exquisiter Vogelkenner, hat immer wieder betont, dass Vögel im Laufe der Evolution – seit etwa 30 Millionen Jahren, also lange bevor der Mensch die Weltbühne betrat – alle Kunstgriffe und -kniffe entwickelt haben, die auch unsere menschliche Musik kennzeichen: Phrasen, Vorschlag, Takt, Rhythmen, Tonarten, Modi, Viertel- und Dritteltöne, Accelerando, Ritardando, Crescendo, Glissandi, Triller, Koloraturen, Intonieren, Transponieren …
Messiaen: Ich habe den Eindruck, dass die Vögel alles gefunden haben, sogar die Mischungen von Klangfarben, die man heute sucht, und Nachhalleffekte.

Dass Vögel so kunstvoll singen, mit diesem Drang, immer wieder Neues auszuprobieren und sich ins Vielfältige zu verzweigen, ist etwas, was die Wissenschaft nicht erklären kann.
Ich bin davon überzeugt, dass Vogelgesänge in ihrer wilden Vielfalt und Ursprünglichkeit große Lobgesänge auf die Schöpfung sind. Schöpfungsklänge, könnte man sagen, die sich in jedem Moment neu erfinden. Wenn man ihnen wirklich zuhört, begreift man das schnell und wird davon ergriffen und fühlt sich zurück geführt zum Ursprung der Schöpfung. Am Anfang war das Wort, heißt es in der Bibel. Und das Wort war Klang, lässt sich nahtlos anschließen.

Jeder Vogel ist sein eigenes Leitmotiv, sagt Messiaen. Ein Vogel, und sei sein Laut noch so einfach, wiederholt sich nie. Genau das macht die Lebendigkeit und Faszination von Vogelgesängen aus.

Amsel & Co. im Innenohr

Wer Ohren hat zu hören, der höre! Ein Ratschlag, eine Weisheit, die längst ungehört verhallt ist.
Obwohl Vögel nicht so sprechen, wie wir es verstehen, sind sie in der Lage, in komplexer Weise zu rufen, zu singen und zu musizieren und sich dabei sehr erfolgreich miteinander zu verständigen. Was wir davon mitbekommen, sind leider nur Bruchstücke – Getwitter eben in unseren menschlichen Ohren.

Zum Beispiel Amseln, die uns immer noch sehr nahe sind – diese schwarzen Drosseln, die aus der Schwärze der Wälder zu uns gekommen und in unseren Dörfern und Vorstädten, Park- und Gartenlandschaften heimisch geworden sind. Wo sie, seit 150 Jahren, ganz nahebei auf Dächern und Baumspitzen singen und konzertieren.

Eine Amsel singt morgens um 6:00 Uhr in den Weinbergen von Eppan

Weil sie scheinbar so alltäglich sind, wird meistens verkannt, dass sie noch viel kunstvoller und differenzierter singen, als ein aufmerksames menschliches Ohr es wahrzunehmen vermag. Denn obwohl unser Hörvermögen feiner gestuft und gestimmt ist als unser Sehvermögen, reicht es nicht an das Auflösungsvermögen der Vogelohren heran.
Das Auge tastet Oberflächen ab, springt von Blatt zu Blatt und folgt der Bewegung des Vogelschnabels. Während das Ohr den Raum in sich einlässt, der von Klängen geformt und gestaltet wird.
Das Auge fügt Licht und Schatten zu einem bewegten Bild zusammen – das Ohr holt Wind und Lied herein, so dass sie im Innenohr singen.

Vögel singen für andere Vögel! Dennoch können ihre Gesänge auch den Menschen „Ohrenlichter“ aufstecken und belebend und beglückend sein. Wenn der Raumklang der Vogellaute erst einmal eingedrungen ist ins Ohr – und damit zwangsläufig auch unter die Haut – öffnet sich eine neue Welt. Eine Welt, die uns immer schon umgab, die wir nur vergessen haben, eine freigiebige Welt, die keinerlei Absichten verfolgt. Musik frei Haus, Garten, Spaziergang in unendlichen Klangvariationen, in denen das Leben vibriert, nicht das Rattern von Maschinen.

Der Nachtigall lauschen

Viele Vögel haben es in der Kunst der Komposition, Variation und Improvisation zu großer Meisterschaft gebracht, unsere heimischen Allerwelts-Amseln allen voran. Obwohl auch die Kohlmeise sich als ein großer Variationskünstler entpuppt. Wenn man ihr und ihren Vogelgenosssen nur lange genug zuhört und ihre Themenwechsel verfolgt, versteht man schnell, dass jeder Vogel sein eigenes Leitmotiv ist. Das gilt für die heimischen Nachtigallen, Sperlinge, Rotkehlchen und Rabenkrähen ebenso wie für die Schamadrosseln und Orpheuszaunkönige des tropischen Regenwaldes.
Gar nicht zu reden von Spöttern wie dem Sumpfrohrsänger oder Staren, diesen Flötenmeistern und Bauchrednern, die im Frühjahr wahre Jamsessions zum Besten geben.

Fünf Stare konzertieren auf dem Dorfspielplatz um ihre Nistkästen herum. Ab 01:20 mischt eine Elster ihr raues Schackern dazwischen

Obwohl die Töne und Klänge, die Vögel hervorbringen können, an ein arteigenes Grundprogramm gebunden sind, kennzeichnet auch den scheinbar einfachsten Vogellaut stets das vibrierende Neuerfinden von Nuancen: das ist ja schon Thema und Leitmotiv in Hans Christian Andersens Kunstmärchen von der Nachtigall und dem Kaiser von China, der mit einem aufziehbaren mechanischen Vogel die lebendige Nachtigall vergrämt:
Aber die armen Fischer, welche die wirkliche Nachtigall gehört hatten, meinten: „Das klingt wohl ganz hübsch, es läßt sich auch eine Ähnlichkeit der Melodie nicht ableugnen, aber es fehlt doch etwas. Was es nur sein mag?“

Eine Nachtigall singt in einer Mittsommernacht am Berliner Wannsee (kleiner Ausschnitt)

Ja, was mag es sein, das Lebendige, das immer wieder neu klingt, trotz tausendfacher Wiederholungen, die, wenn man genauer lauscht, tausendfache Modifikationen sind? Niemand kann da eine eindeutige Antwort geben.
Wer aber Ohren hat zu hören, der höre! Das Ergebnis wird erstaunlich sein.