Nebelland hab ich gesehen … Notizen im November
5. November 2024
Wenn man vom Dießener Beobachtungsturm auf die schmale Landzunge in der Ammerseebucht schaut, sieht man kahle Bäume, die nur noch Misteln tragen, ein paar Vögel vielleicht, die sich dort für kurze Zeit niederlassen und, auf dem abgestorbenen Baum in der Mitte, den Fischadlerhorst, der im Sommer für so viel Aufregung gesorgt hat. Denn hier in Oberbayern sind, zum ersten Mal wieder seit mindestens einhundertundfünfzig Jahren, zwei Fischadlerjunge flügge geworden. Bis vor Kurzem sind die Jungen hier noch herumgestreift. Jetzt sind sie wie die Alten verschwunden, vielleicht schon auf dem Weg nach Afrika. Der Horst ist leer von Leben, nebelgefüllt.
Fischadler wurden wie viele andere Fischfresser – insbesondere Graureiher, Kormorane, Fischotter – unerbittlich als „Nahrungskonkurrenten“ des Menschen verfolgt und waren Ende des 19. Jahrhunderts so gut wie ausgerottet. Inzwischen sind sie, durch strenge Maßnahmen geschützt, zurückgekommen. Die Freude unter den Naturschützern ist groß – aber wie lange wird sie anhalten? Sowie eine nichtmenschliche Species sich von den gnadenlosen Nachstellungen der Species Mensch erholt hat und sich mehr als gewünscht ausbreitet, wird ihr Schutz wieder durch Sondermaßnahmen aufgeweicht. Und die heißt in der Regel: töten.
Der Gänsesäger, diese schöne große Entenart, ist bei uns ein seltener Vogel und steht als stark gefährdete Art auf der Roten Liste bedrohter Arten. Er unterliegt nach wie vor dem Jagdrecht, obwohl für ihn eine ganzjährige Schonzeit besteht und er seit 1976 nicht mehr gejagt wird.
Selten ist auch die Äsche in unseren Wildflüssen geworden, und wie immer, wenn eine Art zurückgeht, ist dafür ein Bündel von Faktoren verantwortlich: Zum Beispiel, dass Äschen Wassertemperaturen von 26°C und darüber nicht vertragen können, dass zahlreiche Querbauten im Fluss die Wanderung dieser Lachsfische verhindern und dass Pestizide auch ihnen allmählich den Garaus machen. Bis jetzt sind nicht einmal die Mageninhalte der getöteten Vögel ausreichend untersucht worden, um festzustellen, wieviele Äschen sie tatsächlich fressen. (1)
Es entspricht der vorherrschenden Totschlagmentalität, dass, statt das Zusammenwirken all dieser Bedingungen gründlich zu untersuchen, die Vögel – diese Fischterroristen! – erst einmal abgeknallt werden. „Vergleichbare Referenzstrecken“, „weiter ausreichend belastbares Material sammeln“ – was für ein fadenscheiniges wissenschaftliches Mäntelchen wird doch dieser nur allzu offensichtlich einseitigen Aktion umgehängt, die vor allem im Interesse der Fischereiverbände steht und wieder ein neues Ungleichgewicht schaffen wird.
Die Stimmen der Gänsesäger sind nicht oft zu hören. Aber wenn sie sich hören lassen – wie eigenartig, wie schön!
♫ Gänsesägerbalz an einem nebligen Dezembermorgen 2014 auf dem Egelsee ♫
Ein nebelverhangener Dezembertag. Auf einem kleinen Anglerteich ist ein Trupp von 18 Gänsesägern eingeflogen, die kräftig im Wasser herumplatschen. Während sich der Nebel ringsum nur langsam auflöst, geraten die großen, meist stummen Entenvögel in vorfrühlingshafte Balzlaune. Die sanften, leise klingelnden Laute der Männchen, mit Widerhall und in wiegendem Rhythmus (deutlich ab 00:11), bilden einen reizvollen Klangteppich für die rauen und dunklen Knarr -, kra-ka und kro-kro-Rufe, mit denen die Weibchen antworten.
Der geschätzte Brutbestand in Bayern beträgt zur Zeit um die 500 Brutpaare – inzwischen sind 440 Gänsesäger getötet worden. Und bis Ende 2025 soll es so weitergehen! Wie übrigens will man ausschließen, dass diejenigen, die hier ahnunglos als Wintergäste auf unseren Flüssen landen, nicht auch abgeknallt werden? Heute in den einen Trupp geschosssen, morgen in den nächsten, der unvergrämt und ahnungslos daherkommt und so fort – wie wissenschaftlich ist das denn?
Und woran erinnert das, heute, an diesem dunklen Novembertag? Der überschattet wird von der Wahl eines US-Präsidenten, der darauf brennt, das Klimaschutzabkommen zu annullieren und Migranten massenweise zu deportieren. Der verdunkelt wird von mörderischen Kriegen – ja, ich weiß, Kriege sind immer mörderisch – in der Ukraine, in Gaza, im Libanon, im Sudan … – Kriegen, die oft von Genoziden nicht weit entfernt sind, in denen „gezielte Tötung“ längst en vogue und der Schutz von Zivilisten aufgehoben ist.
Eine Species, die so miteinander umgeht, ist von der zu erwarten, dass sie ihre Mitlebewesen schont?
Nebelland hab ich gesehen, Nebelherz hab ich gegessen … (2)
Die Dunkelheit nimmt zu.
9. November 2024
Wieder ein Dunkeltag in der deutschen Geschichte. Scheitern der Märzrevoloution 1848, Novemberrevolution 1918, Hitler-Ludendorffputsch 1923, Novemberpogrom 1938. Und die Maueröffnung 1989, die allerdings ein Lichtblick war. Ich erinnere mich noch lebhaft an die aufgewühlte Stimmung in Berlin – wo wir damals lebten – an die jungen Leute, die rittlings auf der von Graffittis bedeckten Mauer saßen und bunte Brocken herausklopften, an das aufgewühlte brodelnde Lärmen zwischen Potsdamer Platz und Checkpoint Charlie.
Ganz aktuell gab es bei uns heute einen kleinen, aber aufmunternden avifaunisten Lichtblick in all der Novembergräue: zum zweiten Mal in diesem Herbst haben drei Stieglitze die dicken Distelköpfe der Karden angeflogen und lange, kopfüber, kopfunter, die Samen herausgeklaubt – darin sind sie Meister. Im Gegensatz zu den Sperlingen, die es ihnen gelegentlich nachzumachen versuchen und kläglich daran scheitern.
Alles Lebendige, alle Lebewesen sind im Grunde Lichtträger, kleine Leuchtfeuer in der Finsternis unseres Weltalls und der Dunkelheit unserer Erde. Vögel sind dies in besonderer Weise, und Stieglitze mit ihren exotisch bunten Federn zeigen das schon im Äußeren. Sie sind unverkennbar mit ihrem leuchtgelben Flügelstreif, ihrem schwarzweißen Kopf und rotschwarzen Gesicht – in diese Farben müssen die grauköpfigen Jungen im Laufe des Sommers aber erst hineinwachsen.
Wellig wie ihr Flug, licht und lebhaft sind auch die Gesänge der schönen Bunten. Es ist gar nicht so einfach ♫ Einzelgesänge ♫ aufzunehmen, obwohl ein Stieglitz seinen Schnabel nie lange halten kann. Denn sie leben gesellig, bilden auch in der Brutzeit keine Territorien, um die sie sich streiten könnten, und streifen nach der Brutzeit in kleinen Gruppen, im Herbst und Winter oft in großen Schwärmen umher. In unseren Breiten bleiben sie auch den Winter über da und vereinigen bei mildem Wetter ihre Stimmen zu großen Gemeinschaftsgesängen.
♫ Stieglizschwarm im Winter, großer Gruppengesang ♫
In den Bäumen zwischen Bauernhof und Feld entdecke eine große Gruppe von etwa 80 Stieglitzen, zusammen mit einigen Grünfinken. Die bunten Vögel und ihre Stimmen sind ständig in Bewegung: auffliegend, wieder landend, hin und her, auf und ab, singend und singend. Ihre kleinen Einzelgesänge fließen zu einem großen, unüberhörbaren Gruppengesang zusammen, der Helligkeit verbreitet. In der Nähe gibt es ein Feld mit Sonnenblumen, die letztes Jahr nicht geerntet wurden, und dort tummeln sich viele Vögel, vor allem Nebelkrähen und ca. 400 Stieglitze, die lebhaft Späternte halten.
Klänge wie Bilder: kleine lichte Erinnerungen, gespeichert für düstere Tage – gut, dass es sie gibt!
18. November 2024
Nach dem frühen Schneeeinbruch vor 5 Tagen ist schon alles wieder dahingeschmolzen. Es weht ein starker Wind, und die Doppellinde ist nun gänzlich von Blättern entleert und in ihren Wintermodus eingerückt. Jetzt zeichnet sich jedes Zweiglein deutlich vom Morgenhimmel ab, und der Morgenhimmel hängt sein blasses Blau in die Lücken, die vormals ein dicker Blätterpelz füllte.
In keiner Jahreszeit tritt der endlose Rhythmus von Werden und Vergehen so deutlich hervor wie in dieser Jahreszeit. Und wer’s nicht hat, dies Stirb und Werde ist nur ein trüber Gast auf dieser schönen Erde, hat Goethe gedichtet. Jetzt offenbart sich die auflösende Kraft der großen Transformation, der alles unterworfen ist.
Schwere Worte aus der Bibel kommen mir in den Sinn: Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom; sie sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird, das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorret.
In anderen, moderneren Worten: Alles gibt sich der großen Transformation hin. Form löst sich auf., Licht kehrt zurück zum Ursprung. Was bleibt, ist Dunkelheit. Wir leiden an der Freiheit der Vergänglichkeit. (3)
An der Freiheit der Vergänglichkeit leiden Bäume wohl kaum. Und Tiere vermutlich auch nicht. Sie sind schlicht – wirklich schlicht? – in die große Transformation eingebunden, der sie sich fraglos und ohne Gehirnakrobatik hingeben können. Und müssen.
Und bei aller Melancholie: ohne das kleine Glück des Alltags kann auch ein Mensch nicht leben.
Dieses Glück bestand heute darin, dass wir bei unserer Wasservogelzählung neben einer großen Schar Stockenten einen Trupp Gänsesäger auf dem Windachspeicher gesichtet haben, Männchen und Weibchen. Denen allen ich wünsche, dass sie das sinnlose Gejagtwerden im Rahmen eines fragwürdigen „Forschungsprojekts“ unbeschadet überstehen!
23. November 2024
Gestern hat es nach mittäglichem Sonnenschein wieder zu schneien begonnen. Heute ist der Himmel blau, die Linde hat ihre Schneelast schon wieder verloren, aber ringsum sind Felder und Wiesen weiß.
Ich habe jetzt die letzten Seiten von Imre Kertesz Roman eines Schicksallosen gelesen. Imre Kertesz, ungarischer Jude, Nobelpreisträger, der mit 14 Jahren auf der Straße aufgegriffen wurde und Auschwitz und Buchenwald überlebt hat:
… dort, zwischen den Schornsteinen gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, was dem Glück ähnlich war. (4)
Was für ein aufrührerisches Resumee, gefährlich missverständlich, weshalb das Buch von den Verlagen zunächst abgelehnt wurde.
Aber kein Zweifel, nicht nur für Kertesz ist es wahr, oder zumindest: wahrhaftig.
Am Leben sein, das Lebendige spüren … das Geschöpfliche in uns allen, die nichtmenschlichen Lebewesen selbstverständlich mit eingeschlossen. Das geschöpfliche Glück des Augenblicks ist offenbar unauslöschlich, solange es Leben gibt.
27. November 2024
Nach einem zweiten Schneeeinbruch vor einer Woche sind kaum noch weiße Flecken in der Landschaft zu sehen. Es herrscht strahlender Sonnenschein.
Unser Haustier ist jetzt eine Kreuzspinne, die wir zu schützen suchen. Sie haust seit vielen Wochen in der Ecke zwischen dem Hängebrett über dem Herd und dem Regal, das im rechten Winkel dazu angebracht ist. Manchmal lauert sie groß und dunkel in ihrem Netz, das wir kaum sehen können. War sie erfolgreich, zieht sie sich unter das Hängebrett zurück, hockt da tagelang – bewegungslos, zusammengekrumpelt, für den flüchtigen Blick nicht zu sehen. Dann plözlich ist sie wieder da, schwebt in ihrem unsichtbaren Netz, lauert …
Diese Ecke wird von uns nicht angerührt.
Und ist sie nicht schön?
30. November 2024
Heute konnte das Licht den Nebel erst gegen 11 Uhr durchdringen. Der November geht zu Ende, mit Kriegsnachrichten, Sonne und früher Dunkelheit. Und mit zwei Gänsepaaren in der Kiesgrube, Rost- und Nilgänsen, beides Neozoen, eingebürgerte Fremdlinge, die sich dicht nebeneinander sonnen. Was für ein friedliches Bild …
(1) siehe auch LBV: Wir fordern Ende der Jagd auf Gänsesäger
(2) letzte Zeilen aus Ingeborg Bachmanns Gedicht „Nebelland“, veröffentlicht 1956 in „Anrufung des Großen Bären“, R. Piper & Co Verlag München
(3) aus Llewellyn Vaughan Lee, „Jahreszeiten der Liebe“, Oneness Center Bern 2014, S. 223
(4) aus Imre Kertesz „Roman eines Schicksallosen“, Rowohlt Berlin 1996,10. Auflage 2003, S. 287
Überaus lehrreiche Notizen aus unserem Nachbarland Deutschland, wo man offenbar sehr „kurzsichtig“ die Gänsesäger „zielbewusst“ abknallt. Dass der Brutbestand von 500 auf 60 schrunpft ist grauenhaft.
Bei uns haben wir auch die geselligen Distelfinken, farbenprächtige und lebhafte Vögel, die in Selma Lagerlöfs Christuslegenden in der Erzählung „Rødhalsen“ ( Das Rotkehlchen) vorkommen.Viele Grüße Birgit Bonnichsen