Kiebitze auf Durchzug: ruhen, rasten, weiterziehen
24. September 2022
Gestern war kalendarischer Herbstanfang, Tag- und Nachtgleiche, Äquinoktien. Langsam neigt sich das Jahr der Dunkelheit zu, obwohl noch Sommerzeit herrscht.
Noch ganz in den Sommer eingesunken, habe ich erst kürzlich erstaunt festgestellt, dass sich das Laub mancher Bäume zu verfärben beginnt: Wie stumpf nun das Blattgrün wird, von graubraunen Farbschlieren überkrochen, einzelne Blätter gilben schon. Erste Anzeichen, dass die Hexenküche der Sonne im Blattinnern eingestellt wird – die Sollbruchstellen, an denen die Blätter sich lösen werden, sind ja lange schon angelegt – und wie ein Reflex erwacht in mir die Sehnsucht nach dem fröhlich flatternden Hellgrün des Frühlingsaustriebs …
Aber nichts da. Als ich gestern früh aufs Rad stieg, um mich in der Schwiftinger Feldflur umzusehen, war ich ausgestattet mit warmem Anorak und Handschuhen (!) und der vagen Hoffnung, auf Kiebitze zu treffen, die hier jedes Jahr durchziehen.
Und ob ich sie nun finden werde oder nicht, und obwohl es vielerorts schon betrüblich vogelstill ist – schön ist es, durch die „Pampa“ zu fahren, die ganz gewöhnliche Feldflur, die in unserer Region noch recht kleinteilig strukturiert ist. Schön ist es, zu lauschen und zu spähen, während die Sonne langsam den Nebel wegleckt.
Immerhin jagen über den den Feldern noch Rauchschwalben, hier und da. Immerhin flügelt ein Rotmilan im Suchflug vorbei und singt eine Goldammer, von Licht umflossen.
Vor einem Stadel präsentiert sich – stumm – ein Hausrotschwanzpaar, von der Septembersonne so behutsam in seinen Farben gezeichnet, dass ich es fotografieren muss.
Die ♫ sonoren Rufe von Saatkrähen ♫ dringen herüber: die rücken hier jedes Jahr als Wintergäste ein. Nie allein. Immer in Gruppe. Ein Starenschwarm schwatzt im größten Straßenbaum am Platze, und zwei Kohlmeisen am Ortseingang wechseln ihre herbstlich unruhigen Rufe und Gesänge zwischen Maisfeld und Garten hin und her.
Es wird warm. Längst habe ich Anorak und Handschuhe ausgezogen und umkreise mehrfach die Felder diesseits und jenseits der Straße. Dehne mich in der Sonne. Nichts Schöneres unter der Sonne … Unvermittelt stelle ich fest, dass mein Spektiv fehlt. Panik überflutet mich – was nun, wenn es nicht mehr zu finden ist? Ich sause die letzten Wege zurück – von Weitem sehe ich, da, wo ich Bachstelzen beobachtet habe, etwas einsam und verlassen in die Landschaft ragen. Tatsächlich, es ist das Spektiv! Erleichterte kehre ich zum zweiten Mal um fahre noch einmal die Straße längs: zum letzten Mal für heute, nehme ich mir vor.
Und plötzlich sind sie da, die schönen Regenpfeifer mit Federholle. Hocken dicht hinter dem Traktor auf einem Feld, das gerade gepflügt wird, und lassen sich nicht stören. Aber kaum steige ich vom Fahrrad, heben sie ab. Kurven hin und her, rücken mit ihren runden Flügelschlägen mal näher heran, mal ferner, so gemächlich, dass ich ihnen mit der Kamera folgen kann. Verschwinden hinter einer Bodenwelle.
Wie schade! Ich bin erfreut und resigniert zugleich. Baue dennoch das Stativ für meinen Fotoapparat auf. Und während ich den Bussard drüben auf dem Leitungsmast, eine sehr dunkle Morphe, fotografiere, kommen sie zurück mit lautlos weichen Flügelschlägen zurück.
Der Bauer lärmt mit seinem Traktor auf dem Feld und ich stehe mitten auf dem Fahrradweg mit meinem Spektiv, weithin sichtbar. Aber sie beachten uns nicht.
Gehen geruhsam auf dem Grünland etwas weiter vorn nieder – und lassen sich von nun an nicht mehr stören. Rasten und putzen sich, picken nach Nahrung. Grün schillert ihr Gefieder in der Sonne, von warmen rotvioletten Farbreflexen überlaufen. Wie auf dem Zug üblich, plaudern sie leise miteinander in ihrer Vogelsprache, so leise, dass es vom Traktorlärm fast übertönt wird.
Das Glück der Geduld! Es sind genau dreißig Kiebitze, und jetzt kann ich sehen, vor allem an den kurzen Federhollen, wie viele Diesjährige darunter sind.
Wo kommen sie her? Wo fliegen sie hin?
Alte, uralte Fragen, die ohne Beringung oder Besenderung nicht zu beantworten sind. Auch wenn einige beringt sein sollten, auszuspähen ist das nicht, dafür versinken sie zu tief im grünen Krusch, die meisten sogar bis zum Bauchgefieder.
Vermutlich werden sie nicht besonders weit reisen. Je nach Wetterlage sind sie Stand- Strich- oder Zugvögel. Ihre Winterquartiere liegen in Frankreich, Spanien, Großbritannien, im März kommen sie in ihre Brutreviere zurück.
Wenn sie kommen! In unsere unmittelbare Umgebung, wo ich sie viele Jahre lang bei Balz und Brut beobachten konnte, kehren sie seit einigen Jahren nicht mehr zurück, und wir vermissen sie sehr.
Jedes Frühjahr zur Zeit der Amphibienwanderung schaukelten und gaukelten sie über den Feldern, vollführten akrobatische Flugmanöver, Sturzflüge inbegriffen, „sangen“ sogar im Duett.
Kamen jedem Reviereindringling ganz nah, indem sie ihn von hinten angeflogen, um dicht an ihm vorbeizurauschen – kiebitzen heißt es deshalb, wenn man jemandem von hinten über die Schulter guckt, insbesondere beim Skat.
Und während ich den schönen Durchzüglern zusehe, kitzelt die Sonne, die jetzt sommerlich wärmt, ihre unnachahmlichen Frühlingsstimmen und das Wummern und Wuchteln ihrer Flügel, mit dem die Männchen zur Balzzeit imponieren, wieder in mein Ohr.
Weitere Infos zu Kiebitzen und Kiebitzschutz:
LBV- Ratgeber Kiebitz und LBV Starnberg – Kiebitzporträt