Schwirlen und Schwirren: Seltsame Sommervögel
18. Juni 2022
Sonne, Regen, Schwüle, Gewitter, dabei immer noch Morgenkühle. Tropisches Wuchern von Blauregen, Schnecken, Fliegen, hier im Voralpenraum gibt es heuer Wasser genug.
Nun treibt alles auf den Höhepunkt zu: Der längste Tag, die kürzeste Nacht. Klimax des Wachstums, des Blühens, Brütens und Fütterns. Jungvogelzeit.
Ein Insekt und kein Vogel: Taubenschwänzchen
Seit einer Woche sind sie wieder im Garten zu Gast, diese Sommervögel, die statt Schnäbeln so feine Gebilde tragen, dass das Wort Rüssel viel zu grob dafür ist. Zarte lange Röhren, die sie auf- und ausrollen, um Nektar zu saugen. Wie Kolibris können sie auf der Stelle schwirren – so schnell, dass auf dem Foto verschwimmende Farbreflexe entstehen. Wobei sie, ohne die Pflanzen zu berühren, ihre langen Saugrüssel in die Schlünde der Sommerblüten stecken, auch in die besonders tiefen der wilden Prachtnelke.
Sommervogel ist ein bei uns veraltetes Wort für Schmetterling, im Dänischen jedoch als Sommerfugle lebendig, und Taubenschwänzchen ein gebräuchlicher, aber irreführender Name für einen der merkwürdigsten Schmetterlinge, die ab Juni, Juli zu uns kommen. Wenn wir Gärten haben oder Balkone. Wenn wir ihnen die richtigen, das heißt für sie lebenswichtigen, Nektar trächtigen Blüten zu bieten haben. Sommerblütenvögel, ich liebe sie sehr.
Vor Jahren, als ich zum ersten Mal meine volle Aufmerksamkeit auf eine Kamera statt auf meine Ohren richtete, verfolgte ich fasziniert die Flugbahnen eines Taubenschwänzchens, das immer wieder die Blüten einer Gruppe hoher purpurfarbener Indianernesseln anflog: und da gelang mir, mit typischen Anfängerglück, mein ausdrucksstärkstes Sommervogelfoto. Es spiegelt wie keines sonst das wider, was Inger Christensen die dichte Purpurfarbe des Lebens1) nennt. Diese Blühfarbe, diese Gemütsfarbe des Sommers, grundiert von der Trauer um ihre Vergänglichkeit, die uns Schmetterlinge in aller Fantastik vor Augen führen, hat niemand besser als Inger Christensen in ihrem Großgedicht Sommerfugledalen (Das Schmetterlingstal), beschrieben, formal ein Sonettenkranz, ich zitiere hier die beiden ersten Strophen des IV. Sonetts2):
Wie das Berggebüsch mit seinem Duft verdeckt,
dass das Blühen in all dem Vermoderten wurzelt,
dem Schattigen, Filzigen, Pelzigen,
einer wilden und labyrinthischen Unvernunft,
so kann der Schmetterling mit seinem Flattern verdecken,
dass er an den Körper des Insekts gebunden ist,
man glaubt, eine Blume fliege auf
und nicht dieser aufgereihte Bildersturm …
Eine fliegende Blume, gebunden an den Körper eines tagaktiven Nachtschwärmers, der am Körperende wie ein Taubenschwanz gezeichnet ist und mit seinem Schwirrflug so sehr an einen Kolibri erinnert, dass er auch Kolibrischwärmer genannt wird: was für eine Fantastik! Zahlreiche vermeintliche Kolibri-Sichtungen in Europa gehen auf Beobachtungen an dieser Schmetterlingsart zurück.
Federn besitzt er natürlich keine – wohl aber ein weiche Behaarung, ein regelrechtes Pelzchen. Kann dennoch Frost nicht vertragen, und da die Würfel der Evolution so gefallen sind, dass er als ausgewachsener Schmetterling überwintern muss, hat er wie Distelfalter und großer Fuchs ein Wanderleben entwickelt: er weicht zum Überwintern in den Süden aus und kann im Hin und Zurück sogar die Alpen überqueren. Als Folge des Klimawandels überwintern einige Taubenschwänzchen in neuerer Zeit aber auch in milden Regionen Süddeutschlands und legen im März die Eier für die nächste Generation.
Und woher kommen die schönen wuschelköpfigen Sommerfugle, die wir hier seit einer Woche beobachten? Sind sie frisch geschlüpfte Nachkommen der Überwinterer, also hier in Bayern aus dem Ei gekrochen, oder über die Alpen zu uns geflogen? Vieles scheint noch nicht klar zu sein, wahrscheinlich mischen sich die Populationen und Generationen.
Eine Blüte anfliegen, sehr schnell – und rasend schnell schwirren – und kurz vorm Blütenschlund in der Luft stehen bleiben – so kurz, dass ich bei meinen ersten ahnungslosen Beobachtungen glaubte, er hätte die falsche, nektarlose Blüte angeflogen, und jetzt müsse er weiter suchen, und weiter … In Wirklichkeit hat der Schöne in Sekundenbruchteilen ausgerollt, gesaugt wieder eingerollt – wie schafft er das bloß – für meine grobschlächtige Wahrnehmung ein unvorstellbares Kunststück. Ich sehe von der Terrasse aus seinem Zickzackkurs von Blüte zu Blüte zu: Bartblume, Beinwell, Katzenminze, Bartnelke – Blau, Blaulila, Purpur: das lockt ihn an. Den leuchtenden Goldfelberich lässt er dagegen aus: diese Farbe scheint ihn buchstäblich nicht anzumachen.
In fünf Minuten kann ein Taubenschwänzchen mehr als hundert Blüten besuchen. Aber warum diese unermüdliche Geschwindigkeit? Sicher ist: die Flugmuskalatur, die für ein so kleines Geschöpf Gewaltiges leistet, kann dabei nicht auskühlen, bleibt auf Hochtouren, und lauernden Krabbenspinnen bietet er keinerlei Angriffsfläche. Alles andere bleibt verborgen im rätselhaften Gang der Evolution.
1) 2) aus Inger Christensen, Das Schmetterlingstal / Sommerfugledalen. Suhrkamp 1998, S. 9 und 13
Ein Vogel und kein Insekt: Feldschwirl
Wer kennt schon das Geschöpf, dessen Name sich auf Quirl reimt und das alles andere als quirlig ist? Ehrlich gesagt, ich habe es noch nie fliegen sehen. Auch einer, der den Sommer bei uns verbringt auf seine heimliche Weise.
Feldschwirl ist sein Name. Er ist kein Gewinner des Klimawandels. In ausgeräumten Agrarlandschaften fehlt er ganz, weil hier Feuchtgebiete zerstückelt und Hochstaudenfluren und Ufervegetation zerstört worden sind: deshalb steht er bei uns als stark gefährdet auf der Roten Liste.
Wie froh bin ich, wenn ich ihn im späten Frühjahr – denn vorher kommt es nicht aus Afrika zurück – endlich wieder, wie in dieser Aufnahme, zu hören bekomme.
Zu hören, wohlgemerkt – irgenwo aus dem Verborgenen heraus, einer Krautschicht oder einem Busch, auf jeden Fall aus niedriger Höhe. Leicht und sirrend und schwirrend wie der Sommergesang des Großen Grünen Heupferds kommt sein seltsames Lied daher. Ein wenig monoton, ja, das schon, aber dennoch dynamisch, wie das dem Lebendigen grundsätzlich eigen ist.
Der Feldschwirl ist aber kein Insekt, sondern ein Vogel, der heuschreckenähnlich zirpen kann. Locustella heißt er auf lateinisch: Kleine Heuschrecke. Auf Englisch: Common Grashopper Warbler. Zu sehen ist er fast nie, obwohl er zum Singen gelegentlich kleine Warten bevorzugt.
Er liebt offene feuchte Landschaften mit Sträuchern und niedrigem Bewuchs. Bevorzugte Brutplätze sind Großseggensümpfe und Pfeifengraswiesen, schütteres, mit Gras durchwachsenes Landschilf, Waldränder, extensiv genutzte Felder, Weiden, Heiden – alles, was stark verkrautet ist und ihm genügend Unterschlupf bietet. Immer in Deckung und meistens am Boden durchschreitet er die Krautschicht langsam, um Nahrung zu finden oder huscht, bei Gefahr, schnell davon wie eine Maus: wie könnte man ihn da finden. Zumal er in seiner Gefiederzeichnung zur großenr kbu-Fraktion gehört: klein, braun, unauffällig …
In einer extensiven Landwirtschaft ist – oder muss ich sagen: wäre er exzellent in seine Nische eingepasst.
Wie auch sein Schwirrgesang sich in das Gesangsensemble im Frühjahrsmoos- und moor nicht nur einpasst, sondern es auf spannende Weise untermalt und bereichert.
Feldschwirlgesang kurz nach Sonnenaufgang Ende Mai, eingebettet in den Chor der Morgenstimmen am Rande eines kleinen Feuchtgebiets. Eine historische Aufnahme, denn seit Jahren ist der Feldschwirl hier ausgeblieben.
Aufschlüsselung Soundscape vom 27. Mai 2012, ab 5:22 Uhr, Egelsee bei Hofstetten.
Gleich am Anfang Sumpfrohrsänger, Buchfink, Kuckuck, etwas später Rabenkrähen, ab 00:58 Singdrossel, bei1:40 setzen Grünfinken ein, ab 3:20 wird ihr „Klingeln“ sehr intensiv. 3:58 Blässhuhn, ab 5:03 wieder der Kuckuck im Hintergrund, ab 6:53 Füchse. Ab 7:03 wird der Gesang des Sumpfrohrsängers wieder deutlicher. Der Feldschwirl setzt gleich zu Anfang ein und ist bis 8:07 immer wieder, mit Pausen, zu hören. Sh. auch in Xeno Canto XC738037.
Ein Vogel, kein Heuschreck! Auch eine der wundersamen Kapriolen der Evolution.