Nebelland hab ich gesehen … Notizen im November

Nebelland hab ich gesehen … Notizen im November

5. November 2024

Wenn man vom Dießener Beobachtungsturm auf die schmale Landzunge in der Ammerseebucht schaut, sieht man kahle Bäume, die nur noch Misteln tragen, ein paar Vögel vielleicht, die sich dort für kurze Zeit niederlassen und, auf dem abgestorbenen Baum in der Mitte, den Fischadlerhorst, der im Sommer für so viel Aufregung gesorgt hat. Denn hier in Oberbayern sind, zum ersten Mal wieder seit mindestens einhundertundfünfzig Jahren, zwei Fischadlerjunge flügge geworden. Bis vor Kurzem sind die Jungen hier noch herumgestreift. Jetzt sind sie wie die Alten verschwunden, vielleicht schon auf dem Weg nach Afrika. Der Horst ist leer von Leben, nebelgefüllt.

Fischadler wurden wie viele andere Fischfresser – insbesondere Graureiher, Kormorane, Fischotter – unerbittlich als „Nahrungskonkurrenten“ des Menschen verfolgt und waren Ende des 19. Jahrhunderts so gut wie ausgerottet. Inzwischen sind sie, durch strenge Maßnahmen geschützt, zurückgekommen. Die Freude unter den Naturschützern ist groß – aber wie lange wird sie anhalten? Sowie eine nichtmenschliche Species sich von den gnadenlosen Nachstellungen der Species Mensch erholt hat und sich mehr als gewünscht ausbreitet, wird ihr Schutz wieder durch Sondermaßnahmen aufgeweicht. Und die heißt in der Regel: töten.

Gänsesäger-Besuch auf dem Egelsee, Raum Landsberg, Februar 2022

Der Gänsesäger, diese schöne große Entenart, ist bei uns ein seltener Vogel und steht als stark gefährdete Art auf der Roten Liste bedrohter Arten. Er unterliegt nach wie vor dem Jagdrecht, obwohl für ihn eine ganzjährige Schonzeit besteht und er seit 1976 nicht mehr gejagt wird.
Selten ist auch die Äsche in unseren Wildflüssen geworden, und wie immer, wenn eine Art zurückgeht, ist dafür ein Bündel von Faktoren verantwortlich: Zum Beispiel, dass Äschen Wassertemperaturen von 26°C und darüber nicht vertragen können, dass zahlreiche Querbauten im Fluss die Wanderung dieser Lachsfische verhindern und dass Pestizide auch ihnen allmählich den Garaus machen. Bis jetzt sind nicht einmal die Mageninhalte der getöteten Vögel ausreichend untersucht worden, um festzustellen, wieviele Äschen sie tatsächlich fressen. (1)

Ein Gänsesägerweibchen im Mai 2021 mit vier von insgesamt fünf Jungen auf der Windach

Es entspricht der vorherrschenden Totschlagmentalität, dass, statt das Zusammenwirken all dieser Bedingungen gründlich zu untersuchen, die Vögel – diese Fischterroristen! – erst einmal abgeknallt werden. „Vergleichbare Referenzstrecken“, „weiter ausreichend belastbares Material sammeln“ – was für ein fadenscheiniges wissenschaftliches Mäntelchen wird doch dieser nur allzu offensichtlich einseitigen Aktion umgehängt, die vor allem im Interesse der Fischereiverbände steht und wieder ein neues Ungleichgewicht schaffen wird.

Die Stimmen der Gänsesäger sind nicht oft zu hören. Aber wenn sie sich hören lassen – wie eigenartig, wie schön!

♫ Gänsesägerbalz an einem nebligen Dezembermorgen 2014 auf dem Egelsee ♫

Der geschätzte Brutbestand in Bayern beträgt zur Zeit um die 500 Brutpaare – inzwischen sind 440 Gänsesäger getötet worden. Und bis Ende 2025 soll es so weitergehen! Wie übrigens will man ausschließen, dass diejenigen, die hier ahnunglos als Wintergäste auf unseren Flüssen landen, nicht auch abgeknallt werden? Heute in den einen Trupp geschosssen, morgen in den nächsten, der unvergrämt und ahnungslos daherkommt und so fort – wie wissenschaftlich ist das denn?
Und woran erinnert das, heute, an diesem dunklen Novembertag? Der überschattet wird von der Wahl eines US-Präsidenten, der darauf brennt, das Klimaschutzabkommen zu annullieren und Migranten massenweise zu deportieren. Der verdunkelt wird von mörderischen Kriegen – ja, ich weiß, Kriege sind immer mörderisch – in der Ukraine, in Gaza, im Libanon, im Sudan … – Kriegen, die oft von Genoziden nicht weit entfernt sind, in denen „gezielte Tötung“ längst en vogue und der Schutz von Zivilisten aufgehoben ist.
Eine Species, die so miteinander umgeht, ist von der zu erwarten, dass sie ihre Mitlebewesen schont?
Nebelland hab ich gesehen, Nebelherz hab ich gegessen … (2)
Die Dunkelheit nimmt zu.

9. November 2024

Wieder ein Dunkeltag in der deutschen Geschichte. Scheitern der Märzrevoloution 1848, Novemberrevolution 1918, Hitler-Ludendorffputsch 1923, Novemberpogrom 1938. Und die Maueröffnung 1989, die allerdings ein Lichtblick war. Ich erinnere mich noch lebhaft an die aufgewühlte Stimmung in Berlin – wo wir damals lebten – an die jungen Leute, die rittlings auf der von Graffittis bedeckten Mauer saßen und bunte Brocken herausklopften, an das aufgewühlte brodelnde Lärmen zwischen Potsdamer Platz und Checkpoint Charlie.

Ganz aktuell gab es bei uns heute einen kleinen, aber aufmunternden avifaunisten Lichtblick in all der Novembergräue: zum zweiten Mal in diesem Herbst haben drei Stieglitze die dicken Distelköpfe der Karden angeflogen und lange, kopfüber, kopfunter, die Samen herausgeklaubt – darin sind sie Meister. Im Gegensatz zu den Sperlingen, die es ihnen gelegentlich nachzumachen versuchen und kläglich daran scheitern.

Mit ihrem kräftigen spitzen Schnäbeln klauben Stieglitze Samen aus vielen verschiedenenartigen Wildstauden – besonders gern aus Disteln wie dieser Karde in unserem Garten. Distelfinken hießen sie früher

Alles Lebendige, alle Lebewesen sind im Grunde Lichtträger, kleine Leuchtfeuer in der Finsternis unseres Weltalls und der Dunkelheit unserer Erde. Vögel sind dies in besonderer Weise, und Stieglitze mit ihren exotisch bunten Federn zeigen das schon im Äußeren. Sie sind unverkennbar mit ihrem leuchtgelben Flügelstreif, ihrem schwarzweißen Kopf und rotschwarzen Gesicht – in diese Farben müssen die grauköpfigen Jungen im Laufe des Sommers aber erst hineinwachsen.

Wellig wie ihr Flug, licht und lebhaft sind auch die Gesänge der schönen Bunten. Es ist gar nicht so einfach ♫ Einzelgesänge ♫ aufzunehmen, obwohl ein Stieglitz seinen Schnabel nie lange halten kann. Denn sie leben gesellig, bilden auch in der Brutzeit keine Territorien, um die sie sich streiten könnten, und streifen nach der Brutzeit in kleinen Gruppen, im Herbst und Winter oft in großen Schwärmen umher. In unseren Breiten bleiben sie auch den Winter über da und vereinigen bei mildem Wetter ihre Stimmen zu großen Gemeinschaftsgesängen.

♫ Stieglizschwarm im Winter, großer Gruppengesang ♫

Klänge wie Bilder: kleine lichte Erinnerungen, gespeichert für düstere Tage – gut, dass es sie gibt!

18. November 2024

Nach dem frühen Schneeeinbruch vor 5 Tagen ist schon alles wieder dahingeschmolzen. Es weht ein starker Wind, und die Doppellinde ist nun gänzlich von Blättern entleert und in ihren Wintermodus eingerückt. Jetzt zeichnet sich jedes Zweiglein deutlich vom Morgenhimmel ab, und der Morgenhimmel hängt sein blasses Blau in die Lücken, die vormals ein dicker Blätterpelz füllte.
In keiner Jahreszeit tritt der endlose Rhythmus von Werden und Vergehen so deutlich hervor wie in dieser Jahreszeit. Und wer’s nicht hat, dies Stirb und Werde ist nur ein trüber Gast auf dieser schönen Erde, hat Goethe gedichtet. Jetzt offenbart sich die auflösende Kraft der großen Transformation, der alles unterworfen ist.
Schwere Worte aus der Bibel kommen mir in den Sinn: Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom; sie sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird, das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorret.
In anderen, moderneren Worten: Alles gibt sich der großen Transformation hin. Form löst sich auf., Licht kehrt zurück zum Ursprung. Was bleibt, ist Dunkelheit. Wir leiden an der Freiheit der Vergänglichkeit. (3)

An der Freiheit der Vergänglichkeit leiden Bäume wohl kaum. Und Tiere vermutlich auch nicht. Sie sind schlicht – wirklich schlicht? – in die große Transformation eingebunden, der sie sich fraglos und ohne Gehirnakrobatik hingeben können. Und müssen.


Und bei aller Melancholie: ohne das kleine Glück des Alltags kann auch ein Mensch nicht leben.
Dieses Glück bestand heute darin, dass wir bei unserer Wasservogelzählung neben einer großen Schar Stockenten einen Trupp Gänsesäger auf dem Windachspeicher gesichtet haben, Männchen und Weibchen. Denen allen ich wünsche, dass sie das sinnlose Gejagtwerden im Rahmen eines fragwürdigen „Forschungsprojekts“ unbeschadet überstehen!

23. November 2024

Gestern hat es nach mittäglichem Sonnenschein wieder zu schneien begonnen. Heute ist der Himmel blau, die Linde hat ihre Schneelast schon wieder verloren, aber ringsum sind Felder und Wiesen weiß.
Ich habe jetzt die letzten Seiten von Imre Kertesz Roman eines Schicksallosen gelesen. Imre Kertesz, ungarischer Jude, Nobelpreisträger, der mit 14 Jahren auf der Straße aufgegriffen wurde und Auschwitz und Buchenwald überlebt hat:
… dort, zwischen den Schornsteinen gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, was dem Glück ähnlich war. (4)
Was für ein aufrührerisches Resumee, gefährlich missverständlich, weshalb das Buch von den Verlagen zunächst abgelehnt wurde.
Aber kein Zweifel, nicht nur für Kertesz ist es wahr, oder zumindest: wahrhaftig.
Am Leben sein, das Lebendige spüren … das Geschöpfliche in uns allen, die nichtmenschlichen Lebewesen selbstverständlich mit eingeschlossen. Das geschöpfliche Glück des Augenblicks ist offenbar unauslöschlich, solange es Leben gibt.

27. November 2024

Nach einem zweiten Schneeeinbruch vor einer Woche sind kaum noch weiße Flecken in der Landschaft zu sehen. Es herrscht strahlender Sonnenschein.

Unser Haustier ist jetzt eine Kreuzspinne, die wir zu schützen suchen. Sie haust seit vielen Wochen in der Ecke zwischen dem Hängebrett über dem Herd und dem Regal, das im rechten Winkel dazu angebracht ist. Manchmal lauert sie groß und dunkel in ihrem Netz, das wir kaum sehen können. War sie erfolgreich, zieht sie sich unter das Hängebrett zurück, hockt da tagelang – bewegungslos, zusammengekrumpelt, für den flüchtigen Blick nicht zu sehen. Dann plözlich ist sie wieder da, schwebt in ihrem unsichtbaren Netz, lauert …
Diese Ecke wird von uns nicht angerührt.
Und ist sie nicht schön?

30. November 2024

Heute konnte das Licht den Nebel erst gegen 11 Uhr durchdringen. Der November geht zu Ende, mit Kriegsnachrichten, Sonne und früher Dunkelheit. Und mit zwei Gänsepaaren in der Kiesgrube, Rost- und Nilgänsen, beides Neozoen, eingebürgerte Fremdlinge, die sich dicht nebeneinander sonnen. Was für ein friedliches Bild …

(1) siehe auch LBV: Wir fordern Ende der Jagd auf Gänsesäger
(2) letzte Zeilen aus Ingeborg Bachmanns Gedicht „Nebelland“, veröffentlicht 1956 in „Anrufung des Großen Bären“, R. Piper & Co Verlag München

(3) aus Llewellyn Vaughan Lee, „Jahreszeiten der Liebe“, Oneness Center Bern 2014, S. 223
(4) aus Imre Kertesz „Roman eines Schicksallosen“, Rowohlt Berlin 1996,10. Auflage 2003, S. 287


Störche, Raben und Rilke-Amseln

Störche, Raben und Rilke-Amseln

4. März 2022

Jetzt hängt schon um sechs Uhr morgens Licht zwischen den kahlen Zweigen der Linde, eine milchige Helle, von fernem Blau durchschimmert. Ein Vogelschemen gleitet hinter dem großen Baum über die Wiese. Das stumpfe Wiesengrün ist von frostigem Grau überzogen – je höher die Minusgrade, umso grindiger das Grau. Während die erste Sonnenröte über den Horizont tastet, wachen nach und nach die Sperlinge auf und huschen, noch recht kleinlaut, an die Futtersäule.

Amseln und Stare

Am 2. März haben hier die ersten Amseln und Drosseln in Dorf und Wald gleichtzeitig zu singen begonnen. Tags darauf hat auch im Garten die erste Amsel ihr Lied geprobt. Mitten hinein in den Frost, der vor allem die Nächte umklammert hält. Was für schöne Strophen! Und wieder ganz neu, wie unsere Begeisterung. Auch wenn sie Rilke nicht kennen kann: Rilke seinerseits hat, wie es scheint, der Amsel nicht nur aufmerksam gelauscht, sondern ihre Botschaft am Ende seiner Neunten Elegie recht genau überliefert: Erde, du liebe, ich will. … Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her. … Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft werden weniger. Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen.

Lang war der erste Amselgesang noch nicht, dafür ist es offenbar zu kalt. Oder was sonst sollte sie abhalten? Aber das wird schon! Bald, davon bin ich überzeugt, wird sie uns wieder jeden dämmrigen Morgen die Rückkunft des Lichts vom Dachfirst herunter verkünden.
Das Rotkehlchen ist erst einmal verschwunden und auch bei der Nachbarin noch nicht wieder aufgetaucht. Das zerrt an mir, denn hier lauert ständig ein schwarzer Kater, und auch die Katzendame Batsy ist eine Jägerin.

Starenpaar
Glanzstare im Februar

Die Stare hingegen, die sind jetzt ständig präsent. Sitzen im Fliederbusch. Schaukeln an den Futtersäulen. Vertragen sich mit den Spatzen, die um sie her wimmeln. Ab und an ein Schnabelhieb in die Luft, unplatziert, der Platz schafft, auch gegenüber drängelnden Artgenossen. Quarren ein bisschen dabei. Inspizieren die Starenkästen, setzen sich auf einem kahlen Ast zurecht, kakeln, schwatzen, imitieren. Lassen diesen lang nach unten gezogenen Glissandopfiff hören, der ihre Population kennzeichnet und trotz Frost schon die halbe Frühjahrsmiete ist – für mich jedenfalls. Glanzstare heißen sie jetzt, weil ihr Gefieder schillert und glänzt. Verbreiten das Glück des Augenblicks.

♫ Stare am Nistplatz: Kakeln, Schwatzen, Imitieren – und Pfeifen ♫

Aufschlüsselung: Glissandopfiff 00:13, Imitation Mäusebussardruf 00:24, Im. Schwarzmilantrillern 00:29, Im. Mäusebussardruf 00:33, Im. Amselphrase 00:44, Im. Rauchschwalbe 01:00, Im. Turmfalkenruf 01:04, Im. Amselphrase 01:09, Glissandopfiff 01:24, Im. Turmfalkenruf 01:44, Im. Kiebitz 02:01, Im. Rauchschwalbe 02:29, Im. Amselprase 02:31, Im. Rauchschwalbe 03:23, Im. Amselphrase 03:24, Im. Kiebitz 03:58, Im. Mäusebussardruf 04:08, Im. Amsel„ducken“ 04:49 …

Die ersten Märzenbecher schieben sich aus dem Laub. Seeholz, 14. Februar 2022

Im Seeholz am Ammersee steht das Meer der Märzenbecher nun in voller Blüte. Schon Mitte Februar hatten die ersten Blütenstengel die Laubdecke durchbrochen. Die Winterlinge im Garten, zwei große leuchtende Flecken, knallen aus dürren, aus sehr dürren Staudenbeeten.

Und in der Ukraine herrscht Krieg. Wieder sind Flüchtlingsströme unterwegs. Krieg, das hört nicht auf, der eigentliche Fortschritt findet nicht statt. Mir fällt wieder ein Gedicht ein, das ich 2001 geschrieben habe, als mit der von den USA geführten Operation Enduring Freedom – was für ein Name! – der Krieg in Afghanistan begann. Es wird wieder mal einmarschiert …
Galgenhumor am Frühstückstisch. Der Mensch hat zuviel Hirn, sage ich. Und zu wenig Verstand, fügt mein Gefährte hinzu. Dann lassen wir die Schatten hinter uns, für eine kleine Weile, fahren nach Raisting.

Im Storchendorf

Über Raisting kreist der Rote Milan, umgeben von Bavarian Blue. Die Sonne strahlt. Um den Kirchturm herum flattern Dohlen, hocken paarweise auf Vorsprüngen und Simsen, bewachen mit seltsamen hellblauen Augen ihre Brutkästen. Ein Turmfalke schießt vorbei. Buchfinken schmettern. Idylle pur!

Hoch oben im Kirchturm und nur schwer zu fotografieren: Dohlenpaare

Schon von Weitem war ein Langbein auf dem Dachfirst der Kirche zu sehen. Und ja: da sind sie. Auf den Häusern ringsum stehen drei weitere Langbeine auf ihren Horsten, einzeln, einbeinig, von Blau umflossen. Einer hat gerade die Alarmglocke besetzt: wie man sieht, nicht zum ersten Mal.
Die schönen Weißstörche sind wieder da!

Es wird sehr gelasssen gestanden, mit langem Schnabel im Nest gestochert, geruht. Hin und wieder geklappert. Dies ist, neben ein wenig Zischen, Stöhnen, Ächzen und, bei den Nestlingen, ein paar miauenden und quietschenden Bettelrufen, der einzige Laut, den sie gut beherrschen. Denn die Syrinx der Störche ist nicht voll ausgebildet – oder vielleicht auch zurück entwickelt. Fakt ist, dass Störche über eine so schwache Stimmmuskulatur verfügen, dass auch ihre Stimme nur schwach sein kann. Um so lauter ist das Schnabelkappern der Alten und Jungen, ein mechanischer, ein Instrumentallaut.

♫ Begrüßungsklappern eines Storchenpaars auf dem legendären Storchenkran in Kirchheim ♫

Um den 19. Februar herum sind schon viele Weißstörche zeitiger als sonst zurückgekommen und haben hier, jeweils einzeln, 16 Nester besetzt – die Männchen finden früher zurück als die Weibchen. Vermutlich haben sie den stürmischen Rückenwind genutzt, um sich in Rekordzeit zu ihren heimischen Nestern tragen zu lassen. Meist besetzen sie den vorjährigen Horst und harren dort aus, bis die Weibchen kommen. Ihre Bindung an das Nest ist stark, stärker als an ein Weibchen. So führen sie eine saisonale Ehe, und vermutlich suchen sich die Weibchen ihrerseits die Männchen nach den besten Horsten aus.

Jetzt sind fast alle Störche zurück. 22 besetzte Horste gab es im letzten Jahr, heuer sind es 23. Die Schutzgemeinschaft Ammersee hält ein wachsames Auge auf das Geschehen über den Dächern von Raisting, denn die Aufzucht der Jungen ist wetter- und vor allem nahrungsabhängig und oft von Dramatik umwittert.

Längst ziehen nicht mehr alle Weißstörche nach Afrika. Diese hier dürften in Südeuropa überwintert haben – insgesamt 500 Störche bleiben sogar winterüber in Bayern.
Da stehen sie also, stochern im Nistmateriel, im Gefieder. Auch wenn es unter den Männchen gelegentlich heftige Kämpfe um einzelne Horste gibt: was sie vor allem verbreiten ist Frieden. Frieden und Geduld. Nicht die Geduld des Wartens. Sondern die gelassene Geduld dessen, der einsinkt in den Augenblick, um zu tun oder zu lasssen, was im Augenblick getan oder gelassen werden muss. Fraglos. Wir schauen, fotografieren, freuen uns. Überlassen uns gern dieser Atmosphäre, die gerade in Kriegszeiten mehr als willkommen ist. Einer legt den Kopf auf den Rücken, den Schnabel gen Himmel weit aufgesperrt.

Kopf weit zurück in den Nacken gelegt und Schnabel weit aufgesperrt: Dies ist mein Horst!

Diesen Moment hat mein Gefährte fotografiert Die Vögel, sagt Messiaen, sind das Gegenteil von Zeit, sie sind unser Verlangen nach dem Licht, nach den Sternen, nach den Regenbögen
Das gilt nicht nur für Singvögel. Sondern auch für die Störche, die Stummen.
Und kein Gedanke an Krieg!

Gefährdung und Schutz

Dass auch in Bayern wieder Weißstörche brüten, war und ist nicht selbstverständlich.
Weißstörche waren – wie es die scheuen Schwarzstörche immer noch sind – ursprünglich Baumbrüter, bevor sie, sehr erfolgreich, Kulturfolger wurden. In den Dörfern meiner Kindheit, in Niedersachsen, gehörten auf Haus- und Scheunendächern thronende Storchennester ganz selbstverständlich zum Dorfbild. Fasziniert habe ich beobachtet, wie sich über den Dächern der zahmen Dorfgemeinschaft jeden Sommer wieder die Wildnis ausbreitete und sich das ungezähmte Leben der Störche ebenso grandios wie erbarmungslos vollzog! Frei und wild – und allen Naturgewalten ungeschützt ausgesetzt. In krassem Gegensatz zu dem Volk der Hühner im Hühnerhof, das nicht einmal mehr fliegen konnte und sich Nachts in einem Wiem verbergen musste!

Die Waldstücke rings um das Dorf meiner Großeltern kannte ich genau. Wenn ich meine Sommerferien auf ihrem Hof verbrachte, versäumte ich es nie, mit einem alten Klapperrad hinauszufahren. Denn überm Waldrand, dort, wo der Schwarzspecht rief und die Luft mit Insektengesumm und dem trocken heißen Harzduft der Kiefern erfüllt war, übten die Storcheneltern mit ihren Jungen das Fliegen. Bevor sie, noch vor den Jungen, im August zu ihren Winterquartieren aufbrachen.

In den 1970er Jahren, mit dem Fortschreiten der Intensivierung der Landwirtschaft, drohten die Weißstörche langsam auszusterben. Durch Stromtod. Mangels feuchtem Grünland – Sümpfen, Wiesen, Auen, die trocken gelegt wurden – also mangels ausreichender Nahrung. Und das, obwohl der Storch ein Nahrungsopportunist ist und sich je nach Situation vor Ort von Kleintieren wie Regenwürmern, Großinsekten, Egeln, Schnecken, Maulwürfen, Mäusen, Ratten, Froschlurchen, Fischen, Molchen, Schlangen und sogar Aas ernähren kann.

In Bayern wurde deshalb ab 1984 ein Artenschutzprogramm für den Weißstorch begonnen – mit den Schwerpunkten Beseitigung des Nahrungsmangels und Betreuung der Nester inklusive Datensammlung. Es konnte 2017, nach mehr als 30 Jahren, aus Erfolgsgründen (!) eingestellt werden.

Als wir später aus Raisting hinaus fahren, finden wir endlich, auf einem Bäumchen am Rand eines Gartens, ein Storchenpaar. Es lässt sich von uns und unserer Kamera nicht stören; und das zweite Storchenpaar, das wir kurz darauf über den Raistiger Wiesen segeln sehen, schon gar nicht!

Zum guten Tagesschluss: Kolkraben

Kaum in unserem Dorf zurück, hören wir die Kolkraben. Sie fliegen rufend überm Haus hin und her, verschwinden im Wald, krakeelen: ein Paar, das hier herum schon seit Jahren lebt. Im Gegensatz zu den Störchen sind sie monogam. Für sie ist jetzt, Anfang März, hoher Rabenfrühling. Die Balzzeit hat schon im Januar begonnen. Jetzt dürften sie ihr Nest fertig haben und demnächst mit dem Legen ihrer Eier beginnen. Kein Wunder, dass sie an- und aufgeregt sind.

Am Waldrand lässt sich einer der Raben auf der Spitze einer großen Fichte nieder, schreit und schreit – aus dem Waldinnern antwortet der zweite.
Was für eine schöne raue Gestalt! Was für ein schöner mächtiger Ruf!

♫ Ein Kolkrabenpaar im Wald, einander rufend und über meinen Standort hinweg fliegend ♫

Wenn man ihnen länger zusieht und -hört, diesen erfindungsreichen Intelligenzlern, wundert es nicht, dass sie, so außerordentlich stimmbegabt, wie sie sind, zu unseren Singvögeln gehören – und zwar, mit einer Flügelspannweite von 1,20 m, zu den größten in Mitteleuropa (oder sogar weltweit).
Mit seinem Hans Huckebein hat ihnen Wilhelm Busch ein unvergessliches Denkmal gesetzt.

Sie wurden verehrt, verkannt, verfemt, verfolgt.
Als Hugin („Gedanke“) und Mugin („Erinnerung“) waren sie die ständigen Begleiter von Odin, dem einäugigen nordischen Gott, und haben ihm klug berichtet, was in seiner nordischen Mythenwelt geschah. Im Mittelalter als „Galgenvögel“ diskriminiert und anschließend als angebliche Schädlinge der Jagd und der Landwirtschaft („Lämmerkiller“) verschrien, wurden sie so gnadenlos mt Netzen, Fallen, Tellereisen, Schusswaffen und Gift (Strychnin und Glucochloral) verfolgt, dass sie um 1940 nahezu ausgerottet waren, bis auf kleine Restbestände im Alpenraum, in Scheswig-Holstein/Süddänemark und in Ostpolen. Dann begann mit der „Jagdruhe“ im Krieg und Schutzbemühungen ab 1960 eine langsame Bestandserholung. Aber obwohl der Kolkrabe nach dem Bundesnaturschutzgesetz ganzjährig als besonders geschützte Art gilt, steht er im Bundesjagdgesetz als einziger Rabenvogel immer noch auf der Liste des jagdbaren Federwilds – mit allerdings ganzjähriger Schonzeit!


(Sehr ausführlich und informativ: Dr. Frank G. Wörner: Der Kolkrabe – ein Verfemter kehrt zurück)

Ein Kolkrabenpaar

Das Paar hier, das jetzt über dem Waldrand seine Flugspiele treibt, muss in diesem Wald seine Brutstätte haben. Ich habe nie nach ihrem Nest gesucht, wie ich überhaupt nicht gezielt nach Nestern suche, weil ich immer Angst habe, ich könnte die brütenden Vögel vergrämen – sie haben es schon schwer genug. Aber nun wird dieser Wald gerade durch den Bau einer Umgehungsstaße zerstört und zerstückelt. Wie sie wohl darauf reagieren werden? Ich hoffe, weniger empfindlich als ich. Und wünsche inständig, sie werden bleiben.