Man kann es Magie nennen

Man kann es Magie nennen

Im Verborgenen: Rotmilan

8. März 2021

Jetzt. Während zwischen Sonne am Tag und Frost in der Nacht das Frühjahr langsam heran schaukelt. Während all das noch vor mir liegt, was bald viel zu schnell vorüberrauscht. Während jede Blume, die zwischen dürrem Laub hervorspitzt, und jeder Vogeltriller als Ereignis und  Erneuerungswunder begrüßt werden: Jetzt passiert es immer wieder. Wenn ich mich absichtslos verhalte, nichts unbedingt will, nichts herbei wünsche, kommt es plötzlich auf mich zu. Unspektakulär, ganz und gar wunderbar und immer überraschend. Eine Landschaft enthüllt sich. Ein Vogel verbirgt sich. Andere Vögel rücken ganz nah, präsentieren ihre Anmut, lassen ein Liedchen fallen, verschwinden.

Waldbaumläufer, Rotmilan, Feldlerchen

Gestern zum Beispiel.
Ich unternehme eine kleine Rundtour durchs Gelände um unser Dorf herum und bleibe gleich an der nächsten Feldgehölzecke hängen, weil sich dort in der Sonne, die schon zu wärmen beginnt, ein kleiner Märzmorgenchor ereignet. Das Besondere an diesem Fleckchen ist, dass hier ein Waldbaumläufer sein Revier hat, das er mit zartem Stimmchen markiert.

♫ Waldbaumläuferlied – zart, aber mit Triller ♫

Seine Gesangsstrophe endet in einem feinen Triller, ist kaum bekannt und wird meistens überhört. Gleichzeitig durchpfeilen zwei Rotmilane, die ebenfalls in diesem Waldareal ihr Brutgeschäft betreiben, alles Gezwitscher mit ihren langgezogenen, leicht wiehernden Balzpfiffen. Ich bleibe also, baue mein Mikro auf, horche.

♫ Vorfrühlingskonzert am Feldrand

Zu Beginn GOLDAMMER, BUCHFINKEN, AMSELGEZETER im Hintergrund, später SINGDROSSEL. Ab 01:53 legt der KLEIBER richtig los und übertönt das WALDBAUMLÄUFERstimmchen, ab 2:27 Pfeifduett der ROTMILANE aus dem Hintergrund, kurz darauf singt eine WEIDENMEISE. Ab 3:19 keckern zwei erregte BUNTSPECHTE, trommeln.

Während das Mikro läuft, hocke ich auf einer Bank, die sich ans Feldgehölz lehnt, in der Sonne, die Feldmark, die hier leicht abfällt, zu meinen Füßen. Ich lasse meinen Blick im Licht verflimmern und denke an eine schöne Notiz von Hölderlin, die er wohl aufs Schreiben bezogen hat: … das Ohr an den Mund der Schöpfung legen. Dann selber ein Mund sein.

Feldlerche

Plötzlich füllen diese rollenden Triller die Luft, die ich lange nicht mehr gehört habe. Drei Feldlerchen kommen herbei geflattert und landen kaum zwei Meter weit weg von mir am Feldrand. Ich drehe sachte das Mikro um, bin wieder hellwach, rühre mich nicht. Bin für die Lerchen sicher nur ein krummes Stück Holz. Sie jagen sich, rufen , steigen immer wieder auf in die Luft, singen aus voller Brust, buchstäblich, denn so ist ihr Singorgan gebaut. Singen lange, kommen erregt zurück, stellen die Schopffedern auf. Sind plötzlich so schnell verschwunden, wie sie erschienen sind – und ich habe mein bisher bestes Lerchenstückchen aufgenommen.

Am Anfang Gesänge, ab etwa 03:00 vor allem erregte Rufe, während sich die FELDLERCHEN jagen, ab 04:00 trommelt ein BUNTSPECHT dazwischen, später Kontertrommeln mit einem zweiten, ab 06:00 steigen die Lerchen wieder kontinuierlich und steigern sich in einem fulminanten gemeinsamen Jubelgesang.

Kernbeißer, Singdrossel, Schwarzpecht …

zum Beispiel heute.
Ich stromere mit Fido, dem Border-Collie meiner Tochterfamilie, durch die Feldmark gleich hinter unserem Haus. Das Fernglas habe ich nur der Gewohnheit halber umgehängt, weil ich mich draußen ohne Fernglas nackt fühle. Ich erwarte nichts als einen schnellen Hundespaziergang durch die Nachmittagssonne.

Als wir in den Waldweg hinter den Stadeln einbiegen, ärgere ich mich trotzdem, wie so oft, über die Vogelstille. Will aber nicht weiter an den Rückgang der Vogelpopulationen denken, sondern konzentriere mich auf Hund, Sonne, den Rhythmus des Gehens. Oben im Fichtenschlag, wo ein Schwarzspecht eine von Rotfäule befallenen Baum entdeckt hat und als ergiebige Nahrungsquelle nutzt – die Löcher, die er in den Stamm unten gehackt hat, leuchten hell herüber – werde ich plötzlich aufmerksam, bleibe stehen, lausche.

Tatsächlich, hier klicksen und kicksen hoch oben in den Baumkronen Kernbeißer – diese scheuen Finkenvögel mit dem dicken kräftigen Schnabel und der kleinen Stimme, die früher Kirschkernbeißer hießen – ihr wissenschaftlicher Name, ein wenig zungenbrecherisch, ist aus dem Griechischen abgeleitet und lautet Coccothraustes, was soviel wie Kernbrecher heißt.

Kernbeißer gehören, zusammen mit Grauschnäppern, zu denjenigen Singvögeln, die ihren Gesang kaum entwickelt haben – leise, hoch, piepsig, nur aneinander gereihte Klicks- und Kickslaute, was gerade deshalb jemanden wie mich herausfordert, sie dennoch mit Mikrofon einzufangen.
Aber ich habe mein Mikro nicht mit, schade, dabei lautet meine eiserne Regel, es immer dabei zu haben, genau wie das Fernglas. Fido und ich legen an Tempo zu, und nachdem ich den Hund zu Hause abgeliefert habe, schnappe ich meine Aufnahmegeräte und fahre per Rad noch einmal in den Wald.

Singdrossel

Die Kernbeißer sind noch zu hören, es muss sogar ein größerer Trupp sein, aber ich habe Mühe, sie aufzunehmen. Denn kaum bin ich vom Rad gestiegen, kann von Stille keine Rede mehr sein. Weil plötzlich um mich herum ein Vogelkonzert losbricht, so, als hätte ich auf einen magischen Knopf mit Vogelstille beenden gedrückt.
Tonangebend sind zwei Singdrosseln, die mit ihren kräftigen Stimmen, eine davon mehr im Hintergrund, alles ringsum übertönen. Eine davon hat ein seltsames Krähmotiv in ihrem Repertoire, das mich an Papgeienlaute im Costa Ricanischen Regenwald erinnert.

Gleich zu Beginn (00:07) das schräge Krähmotiv einer der beiden SINGDROSSELN. Kurz darauf lässt ein HABICHT seine Rufreihe hören – vermutlich ein Weibchen, die rufen etwas dunkler als Männchen – sh. 02:09 und 04:55. Immer wieder singt ein BUCHFINK dazwischen – z.B. 00:33 – und beide Singdrosseln präsentieren ausgiebig ihre zahlreichen Motive und Variationen. Eine KOHLMEISE läutet, AMSELN ducken. Besonders am Ende sind im Hintergrund ERLENZEISIGE zu hören …

Das auffallend schräge, noch nie gehörte Krähmotiv wird mit offenbarem Vergnügen von Zeit zu Zeit wiederholt. Ein wahrlich originelles Motiv. Es zwingt mich geradezu, mein Mikro im Radkorb aufzubauen (was am praktischsten ist), auf die Tonquelle zu richten und so bewegungslos zu lauschen wie Annie Dillard, wenn sie sich an ihre Bisamratten heranpirschte.

Vögel schaffen es schnell, mich in den Sog ihrer Tonkünste zu ziehen. Wie der Habicht die Gesänge der Kleinvögel mit seinen hartnäckigen Rufreihen aus dem Hintergrund heraus konterkariert! So wie für Eulen und Spechte ist auch für Greifvögel jetzt Balzzeit. Jetzt singt eine Heckenbraunelle, ich höre sie zum ersten Mal in diesem Jahr. Dazu Tannenmeisen, Kohlmeisen, Buchfinken, zeternde Amseln, Misteldrosseln. Erlenzeisige sind auch noch in Trupps unterwegs, rufen, singen, schwatzen. Alle zusammen beschwören und verabschieden zugleich die Sonne, das wieder erstarkte Licht …
Ich gebe es gern zu: ich bin voller Bewunderung für den Einfallsreichtum besonders der Singdrosseln und ihre ungehemmte, ebenso naive wie geniale Musikalität. Warum wird das, trotz ihrer Lautstärke, so wenig gehört?

Ruf oder Gesang? Die Klicks- undKicksstimmen der KERNBEIßER sind so klein wie ihre Körper kräftig sind

Schließlich gelingt es mir in diversen Klangpausen doch noch, die dünnen Kernbeißerstimmen aufzunehmen. Sehen kann ich die scheuen Vögel auch, aber nur, wenn sie, starengroß und kurzschwänzig, zwischen den höchsten Laubbaumkronen hin und her fliegen, während die Singdrossellieder über sie hinweg spülen.

Es wird kälter, eigentlich sollte ich nach Hause fahren. Aber es zieht mich neugierig, wie ich bin, hinüber in den nächsten Waldweg, wo neulich Abends der Waldkauz rief, wo aber heute, jetzt, sicher nichts los ist – nichts rührt sich, na, ich wusste es ja!

Dann dieser magische Moment, in dem ich vor mir unvermittelt den großen schwarzen Vogel von der Wiese auf und über den Weg fliegen sehe. Sein melodischer Flugruf klingt ärgerlich, jedenfalls in meinen Ohren, ich habe ihn gestört, dabei ist er bestimmt noch dreißig Meter weit weg. Ein Schwarzspecht!

♫ Flugruf, Schwarzspecht, sich nähernd ♫

Kaum sitzt er an einem Baumstamm, schallt sein Ruf durch den Wald, wieder und wieder, er ist erregt und nicht allein, im Hintergrund höre ich einen zweiten Großspecht – das ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein Paar.

♫ Schwarzspecht, „Sitzruf“ ♫

Und dann melden sich auch die anderen alle, die hier bisher versteckt und schweigsam waren, als hätten sie auf mich gewartet, was natürlich anthropozentrischer Unsinn ist: Singdrosseln, eine Misteldrossel, Buchfinken, Meisen, auch eine Haubenmeise. Trommelnde Buntspechte. Dazwischen immer wieder die beiden Schwarzspechte. Jetzt höre ich sie in einem weiten Bogen um mich herum fliegen. Schließlich, im schwächer werdenden Licht, fliegt einer über die Wiese, diesmal stumm, und baumt auf der anderen Waldseite auf.

♫ Kleines Abendspektakel mit Schwarzspecht und anderen Waldvögeln ♫

Längst habe ich meine Geräte aufgebaut, wir freuen uns, mein Mikro und ich, über das Tonfutter, das uns geschenkt wird. Wieder still stehen, ganz still und lauschen. Nur muss ich dabei das Aufnahmegeschehen im Auge und Ohr behalten, leider …

Mit dem Abflug des Schwarzspechts und dem letzten Amselgezeter ist nach kurzer Zeit alles vorbei, so, als wäre nichts gewesen. Ein kleines irdisches Spektakel, wie ein Spuk, während die Dämmerung anrückt. Endgültig Zeit, nach Hause zu fahren. Jetzt erst, als ich mich wieder rühre, merke ich, wie durchgefroren ich bin. Ich steige aufs Rad. Die Vögel, der Wald, sie geben mich frei, und ich bin wie so oft dankbar für die Klangwunder, in die ich eintauchen und die ich sogar einfangen durfte.