Störche, Raben und Rilke-Amseln

Störche, Raben und Rilke-Amseln

4. März 2022

Jetzt hängt schon um sechs Uhr morgens Licht zwischen den kahlen Zweigen der Linde, eine milchige Helle, von fernem Blau durchschimmert. Ein Vogelschemen gleitet hinter dem großen Baum über die Wiese. Das stumpfe Wiesengrün ist von frostigem Grau überzogen – je höher die Minusgrade, umso grindiger das Grau. Während die erste Sonnenröte über den Horizont tastet, wachen nach und nach die Sperlinge auf und huschen, noch recht kleinlaut, an die Futtersäule.

Amseln und Stare

Am 2. März haben hier die ersten Amseln und Drosseln in Dorf und Wald gleichtzeitig zu singen begonnen. Tags darauf hat auch im Garten die erste Amsel ihr Lied geprobt. Mitten hinein in den Frost, der vor allem die Nächte umklammert hält. Was für schöne Strophen! Und wieder ganz neu, wie unsere Begeisterung. Auch wenn sie Rilke nicht kennen kann: Rilke seinerseits hat, wie es scheint, der Amsel nicht nur aufmerksam gelauscht, sondern ihre Botschaft am Ende seiner Neunten Elegie recht genau überliefert: Erde, du liebe, ich will. … Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her. … Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft werden weniger. Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen.

Lang war der erste Amselgesang noch nicht, dafür ist es offenbar zu kalt. Oder was sonst sollte sie abhalten? Aber das wird schon! Bald, davon bin ich überzeugt, wird sie uns wieder jeden dämmrigen Morgen die Rückkunft des Lichts vom Dachfirst herunter verkünden.
Das Rotkehlchen ist erst einmal verschwunden und auch bei der Nachbarin noch nicht wieder aufgetaucht. Das zerrt an mir, denn hier lauert ständig ein schwarzer Kater, und auch die Katzendame Batsy ist eine Jägerin.

Starenpaar
Glanzstare im Februar

Die Stare hingegen, die sind jetzt ständig präsent. Sitzen im Fliederbusch. Schaukeln an den Futtersäulen. Vertragen sich mit den Spatzen, die um sie her wimmeln. Ab und an ein Schnabelhieb in die Luft, unplatziert, der Platz schafft, auch gegenüber drängelnden Artgenossen. Quarren ein bisschen dabei. Inspizieren die Starenkästen, setzen sich auf einem kahlen Ast zurecht, kakeln, schwatzen, imitieren. Lassen diesen lang nach unten gezogenen Glissandopfiff hören, der ihre Population kennzeichnet und trotz Frost schon die halbe Frühjahrsmiete ist – für mich jedenfalls. Glanzstare heißen sie jetzt, weil ihr Gefieder schillert und glänzt. Verbreiten das Glück des Augenblicks.

♫ Stare am Nistplatz: Kakeln, Schwatzen, Imitieren – und Pfeifen ♫

Aufschlüsselung: Glissandopfiff 00:13, Imitation Mäusebussardruf 00:24, Im. Schwarzmilantrillern 00:29, Im. Mäusebussardruf 00:33, Im. Amselphrase 00:44, Im. Rauchschwalbe 01:00, Im. Turmfalkenruf 01:04, Im. Amselphrase 01:09, Glissandopfiff 01:24, Im. Turmfalkenruf 01:44, Im. Kiebitz 02:01, Im. Rauchschwalbe 02:29, Im. Amselprase 02:31, Im. Rauchschwalbe 03:23, Im. Amselphrase 03:24, Im. Kiebitz 03:58, Im. Mäusebussardruf 04:08, Im. Amsel„ducken“ 04:49 …

Die ersten Märzenbecher schieben sich aus dem Laub. Seeholz, 14. Februar 2022

Im Seeholz am Ammersee steht das Meer der Märzenbecher nun in voller Blüte. Schon Mitte Februar hatten die ersten Blütenstengel die Laubdecke durchbrochen. Die Winterlinge im Garten, zwei große leuchtende Flecken, knallen aus dürren, aus sehr dürren Staudenbeeten.

Und in der Ukraine herrscht Krieg. Wieder sind Flüchtlingsströme unterwegs. Krieg, das hört nicht auf, der eigentliche Fortschritt findet nicht statt. Mir fällt wieder ein Gedicht ein, das ich 2001 geschrieben habe, als mit der von den USA geführten Operation Enduring Freedom – was für ein Name! – der Krieg in Afghanistan begann. Es wird wieder mal einmarschiert …
Galgenhumor am Frühstückstisch. Der Mensch hat zuviel Hirn, sage ich. Und zu wenig Verstand, fügt mein Gefährte hinzu. Dann lassen wir die Schatten hinter uns, für eine kleine Weile, fahren nach Raisting.

Im Storchendorf

Über Raisting kreist der Rote Milan, umgeben von Bavarian Blue. Die Sonne strahlt. Um den Kirchturm herum flattern Dohlen, hocken paarweise auf Vorsprüngen und Simsen, bewachen mit seltsamen hellblauen Augen ihre Brutkästen. Ein Turmfalke schießt vorbei. Buchfinken schmettern. Idylle pur!

Hoch oben im Kirchturm und nur schwer zu fotografieren: Dohlenpaare

Schon von Weitem war ein Langbein auf dem Dachfirst der Kirche zu sehen. Und ja: da sind sie. Auf den Häusern ringsum stehen drei weitere Langbeine auf ihren Horsten, einzeln, einbeinig, von Blau umflossen. Einer hat gerade die Alarmglocke besetzt: wie man sieht, nicht zum ersten Mal.
Die schönen Weißstörche sind wieder da!

Es wird sehr gelasssen gestanden, mit langem Schnabel im Nest gestochert, geruht. Hin und wieder geklappert. Dies ist, neben ein wenig Zischen, Stöhnen, Ächzen und, bei den Nestlingen, ein paar miauenden und quietschenden Bettelrufen, der einzige Laut, den sie gut beherrschen. Denn die Syrinx der Störche ist nicht voll ausgebildet – oder vielleicht auch zurück entwickelt. Fakt ist, dass Störche über eine so schwache Stimmmuskulatur verfügen, dass auch ihre Stimme nur schwach sein kann. Um so lauter ist das Schnabelkappern der Alten und Jungen, ein mechanischer, ein Instrumentallaut.

♫ Begrüßungsklappern eines Storchenpaars auf dem legendären Storchenkran in Kirchheim ♫

Um den 19. Februar herum sind schon viele Weißstörche zeitiger als sonst zurückgekommen und haben hier, jeweils einzeln, 16 Nester besetzt – die Männchen finden früher zurück als die Weibchen. Vermutlich haben sie den stürmischen Rückenwind genutzt, um sich in Rekordzeit zu ihren heimischen Nestern tragen zu lassen. Meist besetzen sie den vorjährigen Horst und harren dort aus, bis die Weibchen kommen. Ihre Bindung an das Nest ist stark, stärker als an ein Weibchen. So führen sie eine saisonale Ehe, und vermutlich suchen sich die Weibchen ihrerseits die Männchen nach den besten Horsten aus.

Jetzt sind fast alle Störche zurück. 22 besetzte Horste gab es im letzten Jahr, heuer sind es 23. Die Schutzgemeinschaft Ammersee hält ein wachsames Auge auf das Geschehen über den Dächern von Raisting, denn die Aufzucht der Jungen ist wetter- und vor allem nahrungsabhängig und oft von Dramatik umwittert.

Längst ziehen nicht mehr alle Weißstörche nach Afrika. Diese hier dürften in Südeuropa überwintert haben – insgesamt 500 Störche bleiben sogar winterüber in Bayern.
Da stehen sie also, stochern im Nistmateriel, im Gefieder. Auch wenn es unter den Männchen gelegentlich heftige Kämpfe um einzelne Horste gibt: was sie vor allem verbreiten ist Frieden. Frieden und Geduld. Nicht die Geduld des Wartens. Sondern die gelassene Geduld dessen, der einsinkt in den Augenblick, um zu tun oder zu lasssen, was im Augenblick getan oder gelassen werden muss. Fraglos. Wir schauen, fotografieren, freuen uns. Überlassen uns gern dieser Atmosphäre, die gerade in Kriegszeiten mehr als willkommen ist. Einer legt den Kopf auf den Rücken, den Schnabel gen Himmel weit aufgesperrt.

Kopf weit zurück in den Nacken gelegt und Schnabel weit aufgesperrt: Dies ist mein Horst!

Diesen Moment hat mein Gefährte fotografiert Die Vögel, sagt Messiaen, sind das Gegenteil von Zeit, sie sind unser Verlangen nach dem Licht, nach den Sternen, nach den Regenbögen
Das gilt nicht nur für Singvögel. Sondern auch für die Störche, die Stummen.
Und kein Gedanke an Krieg!

Gefährdung und Schutz

Dass auch in Bayern wieder Weißstörche brüten, war und ist nicht selbstverständlich.
Weißstörche waren – wie es die scheuen Schwarzstörche immer noch sind – ursprünglich Baumbrüter, bevor sie, sehr erfolgreich, Kulturfolger wurden. In den Dörfern meiner Kindheit, in Niedersachsen, gehörten auf Haus- und Scheunendächern thronende Storchennester ganz selbstverständlich zum Dorfbild. Fasziniert habe ich beobachtet, wie sich über den Dächern der zahmen Dorfgemeinschaft jeden Sommer wieder die Wildnis ausbreitete und sich das ungezähmte Leben der Störche ebenso grandios wie erbarmungslos vollzog! Frei und wild – und allen Naturgewalten ungeschützt ausgesetzt. In krassem Gegensatz zu dem Volk der Hühner im Hühnerhof, das nicht einmal mehr fliegen konnte und sich Nachts in einem Wiem verbergen musste!

Die Waldstücke rings um das Dorf meiner Großeltern kannte ich genau. Wenn ich meine Sommerferien auf ihrem Hof verbrachte, versäumte ich es nie, mit einem alten Klapperrad hinauszufahren. Denn überm Waldrand, dort, wo der Schwarzspecht rief und die Luft mit Insektengesumm und dem trocken heißen Harzduft der Kiefern erfüllt war, übten die Storcheneltern mit ihren Jungen das Fliegen. Bevor sie, noch vor den Jungen, im August zu ihren Winterquartieren aufbrachen.

In den 1970er Jahren, mit dem Fortschreiten der Intensivierung der Landwirtschaft, drohten die Weißstörche langsam auszusterben. Durch Stromtod. Mangels feuchtem Grünland – Sümpfen, Wiesen, Auen, die trocken gelegt wurden – also mangels ausreichender Nahrung. Und das, obwohl der Storch ein Nahrungsopportunist ist und sich je nach Situation vor Ort von Kleintieren wie Regenwürmern, Großinsekten, Egeln, Schnecken, Maulwürfen, Mäusen, Ratten, Froschlurchen, Fischen, Molchen, Schlangen und sogar Aas ernähren kann.

In Bayern wurde deshalb ab 1984 ein Artenschutzprogramm für den Weißstorch begonnen – mit den Schwerpunkten Beseitigung des Nahrungsmangels und Betreuung der Nester inklusive Datensammlung. Es konnte 2017, nach mehr als 30 Jahren, aus Erfolgsgründen (!) eingestellt werden.

Als wir später aus Raisting hinaus fahren, finden wir endlich, auf einem Bäumchen am Rand eines Gartens, ein Storchenpaar. Es lässt sich von uns und unserer Kamera nicht stören; und das zweite Storchenpaar, das wir kurz darauf über den Raistiger Wiesen segeln sehen, schon gar nicht!

Zum guten Tagesschluss: Kolkraben

Kaum in unserem Dorf zurück, hören wir die Kolkraben. Sie fliegen rufend überm Haus hin und her, verschwinden im Wald, krakeelen: ein Paar, das hier herum schon seit Jahren lebt. Im Gegensatz zu den Störchen sind sie monogam. Für sie ist jetzt, Anfang März, hoher Rabenfrühling. Die Balzzeit hat schon im Januar begonnen. Jetzt dürften sie ihr Nest fertig haben und demnächst mit dem Legen ihrer Eier beginnen. Kein Wunder, dass sie an- und aufgeregt sind.

Am Waldrand lässt sich einer der Raben auf der Spitze einer großen Fichte nieder, schreit und schreit – aus dem Waldinnern antwortet der zweite.
Was für eine schöne raue Gestalt! Was für ein schöner mächtiger Ruf!

♫ Ein Kolkrabenpaar im Wald, einander rufend und über meinen Standort hinweg fliegend ♫

Wenn man ihnen länger zusieht und -hört, diesen erfindungsreichen Intelligenzlern, wundert es nicht, dass sie, so außerordentlich stimmbegabt, wie sie sind, zu unseren Singvögeln gehören – und zwar, mit einer Flügelspannweite von 1,20 m, zu den größten in Mitteleuropa (oder sogar weltweit).
Mit seinem Hans Huckebein hat ihnen Wilhelm Busch ein unvergessliches Denkmal gesetzt.

Sie wurden verehrt, verkannt, verfemt, verfolgt.
Als Hugin („Gedanke“) und Mugin („Erinnerung“) waren sie die ständigen Begleiter von Odin, dem einäugigen nordischen Gott, und haben ihm klug berichtet, was in seiner nordischen Mythenwelt geschah. Im Mittelalter als „Galgenvögel“ diskriminiert und anschließend als angebliche Schädlinge der Jagd und der Landwirtschaft („Lämmerkiller“) verschrien, wurden sie so gnadenlos mt Netzen, Fallen, Tellereisen, Schusswaffen und Gift (Strychnin und Glucochloral) verfolgt, dass sie um 1940 nahezu ausgerottet waren, bis auf kleine Restbestände im Alpenraum, in Scheswig-Holstein/Süddänemark und in Ostpolen. Dann begann mit der „Jagdruhe“ im Krieg und Schutzbemühungen ab 1960 eine langsame Bestandserholung. Aber obwohl der Kolkrabe nach dem Bundesnaturschutzgesetz ganzjährig als besonders geschützte Art gilt, steht er im Bundesjagdgesetz als einziger Rabenvogel immer noch auf der Liste des jagdbaren Federwilds – mit allerdings ganzjähriger Schonzeit!


(Sehr ausführlich und informativ: Dr. Frank G. Wörner: Der Kolkrabe – ein Verfemter kehrt zurück)

Ein Kolkrabenpaar

Das Paar hier, das jetzt über dem Waldrand seine Flugspiele treibt, muss in diesem Wald seine Brutstätte haben. Ich habe nie nach ihrem Nest gesucht, wie ich überhaupt nicht gezielt nach Nestern suche, weil ich immer Angst habe, ich könnte die brütenden Vögel vergrämen – sie haben es schon schwer genug. Aber nun wird dieser Wald gerade durch den Bau einer Umgehungsstaße zerstört und zerstückelt. Wie sie wohl darauf reagieren werden? Ich hoffe, weniger empfindlich als ich. Und wünsche inständig, sie werden bleiben.

Langsam beginnen die Vögel zu singen: Frühlingsklänge zum Hochwinterende

Bei Sonnenaufgang
Kulisse für Frühlingsklänge: Sonnenaufgang mit Kondensstreifen, 10. Februar 2022

Langsam beginnen die Vögel zu singen: Frühlingsklänge zum Hochwinterende

10./11. Februar 2022

Heute Nacht pladderte der Regen aufs Dachfenster, jetzt treibt der Wind draußen weißliche Graupel vor sich her, Hybridgebilde zwischen Schneeflocken und Regentropfen.
Aber Nässe, Gräue und Wind zum Trotz: was noch dräut ist der Winter in seinen vorletzten Züge. Was kommt, und zwar unaufhaltsam, ist das spürbar zunehmende Licht. Und zwischen Sonne am Tag, Nachtfrösten und wieder verstärkter Durchkreuzung des Himmels rückt langsam der Vorfrühling an.

Im Wald

Das war gestern besonders deutlich zu spüren. Da hat mich, nach einer nicht besonders strengen Frostnacht, die Unruhe gepackt. Eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang, als es schon tagt und nur noch die Venus über den Feldern blinkt, gehe ich in den Wald, voller sehnsüchtiger Erinnerung an die Dämmerungs-, die Dawnkonzerte des Frühlings.

Es ist aber, wie zu erwarten, betrüblich vogelstill. Dann zetert eine Amsel. Wieder Stille. Wind. Eispfützen knirschen unter meinen Füßen. Jetzt – da im Fichtenschlag: ein dünnes, zages Liedchen, gesponnen von einem Wintergoldhähnchen. Es bleibt unsichtbar wie meistens hinter dem dunkelgrünen Behang der Zweige, und gleich hat der Wind die kleine Strophe wieder davongetragen. Am Rande des Hochwalds ein paar vereinzelte Gimpel-, Finken- und Meisenrufe – das ist alles.

Bei Birdern, die vorrangig auf Vielfalt und den Thrill des Aufspürens seltener Arten setzen, steht der Wald als Beobachtungsort in der Beliebtheitsskala weit hintenan: zu artenarm, zu wenig zu sehen.
Für mich ist er eine Urheimat. Allem voran natürlich der wild gelassene Wald, allem voran der tropische Regenwald, Gipfel der Seligkeit meiner Voglerinnenseele.

Unvergessen: Rote Aras und andere Papageien in Brutbäumen am Rio Tarcoles in Costa Rica

Aus unsichtbaren grünen Tiefen dringend herrscht dort, Tag wie Nacht, die unentwegte Vielfalt der Stimmen und Gesänge, ein faszinierender Klangteppich, über den hinweg sich die Regenwaldgeschöpfe mit immer neuen Ruf- und Klangvariationen verständigen. Das übertrifft für mich selbst die aufregendste Limicolenansammlung an Fluss oder Binnensee, wie wir sie hier mit Lech und Ammersee ganz in der Nähe haben.

Immerhin ruft, als ich dem Wald schon den Rücken gekehrt habe, ein Sperber seine kurze Rufreihe. Die Sonne geht auf und glänzt hinter den Bäumen. Hoch darüber die Venus, und dazwischen ein schräges sternartiges Gebilde aus Kondensstreifen, das den Himmel durchkreuzt, Menetekel unserer Zeit, das meine Stimmung nicht gerade hebt.

Im Dorf: Gimpelgesänge und erste Starenpfiffe

Gimpelmännchen
Gimpelmännchen im Hochwinter (Dompfaff)

Kaum habe ich mich jedoch dem Dorf genähert, wird mein Winterblues von Vogelstimmen davongeblasen. Grünfinken knätschen, Kohlmeisen läuten, und ein stimmfreudiges Gimpelpärchen singt und ruft unermüdlich im Duett, obwohl der Wind ihnen kräftig durch die Federn streicht.

Ihr ♫ schlichter Gesangsteil ist recht leise: charakteristisch sind die schrägen, nasal klingenden Laute, oft auf kleine Tonsprünge folgend, die viele Obertöne haben. Ob die anschließende Reihe der Rufe, im Duett und zum Teil sogar synchron vorgetragen, auch zu ihrer Gesangssession gehört? Was Ruf ist, was Gesang, was ein Übergang zwischen beiden ist nicht immer genau zu unterscheiden.

Gimpelmännchen und -weibchen an winterlicher Futterstelle

Aber solche menschlichen Klassifizierungsfragen gehen die zwei nichts an. Sie befinden sich ganz offenbar in Harmonie miteinander und singen beide, Männchen wie Weibchen, animiert von der milden Witterung. Nicht nur stehen ihre leisen Laute, manchmal von Windböen weggefegt, im Kontrast zu den kräftigen Körpern – bullfinches heißen sie im Englischen! Sondern auch ihre vokalen Fähigkeiten gehen weit über das hinaus, was man gewöhnlich von ihnen zu hören bekommt. Denn seit langem ist bekannt, dass sie sogar in der Lage sind, Volkslieder nachzupfeifen, melodienfest und tongenau. Dies hat dazu geführt, dass sie sowohl ihrer bunten Schönheit als auch ihrer Imitationskunst wegen gekäfigt worden sind.

Wer ist der Lehrer, wer der Vogel? Ein von Hand aufgezogener Gimpel imitiert eine Volksmelodie

In einem Vogelstimmenvortag in Seewiesen hat Prof. Gahr einmal Tonaufnahmen zur Imitationskunst der Gimpel zu Gehör gebracht, und ich habe es an meinem Sitzplatz mitgeschnitten. Deutlich wird offenbar, wie groß die Stimmbegabung der Gimpel ist -nicht simpel, eher phänomenal! Letztlich bleibt die Frage offen, warum diese Vögel in Freiheit keinen – oder kaum – Gebrauch davon machen. Oder sollte man lieber umgekehrt fragen: warum singen viele Vögel so komplex?

Was mich jedoch am meisten elektrisiertd, als ich ins Dorf zurück komme, sind vier schwarze Vogelgestalten. Sie schaukeln in einer großen Birke auf dem Spielplatz am Ende der Straße, laut pfeifend und leise schwatzend: die ersten Stare sind wieder da! Stimm-, sing- und imitationsfreudig wie eh und je.

♫ Gruppengesang dreier Stare am 13. Februar, wieder auf dem Kirchturmkreuz ♫

Nachtrag: auch in den Dörfern ringsum sind wie auf Verabredung die ersten Stare am 10. Februar erschienen – der restliche große Schwung lässt noch auf sich warten. Am 13. Februar ist es mir gelungen, die komplexen Gesänge der Frühankömmlinge störungsfrei aufzunehmen.

Wintergoldhähnchen und erste Misteldrossel singen auf den Lechhängen

Wenig später hat sich die Sonne durchgesetzt. Ich fahre zum Lech und gehe in der Kalksteinschlucht hinter der „Teufelsküche“ zum Stauweiher hinauf. Die Steige weiter oben sind noch vereist, und die Wasseramseln, auf die ich gerechnet habe, lassen sich nicht blicken.

In der Kalksteinschlucht bei Pitzling

Wasserrauschen und Windsausen, wenn die Böen die Bäume packen. Oben auf dem Wanderweg tanzen Sonnenflecken und Schatten – soll ich weitergehen oder lieber zurück? Dann meldet sich kurz eine Misteldrossel, hört gleich wieder auf und lädt mich zum Horchen und Warten ein. Plötzlich ist die Vogelstille gebrochen. Zwei Wintergoldhähnchen fangen zu singen an, sehr hoch und sehr deutlich mit hübschen kleinen Schnörkeln am Ende.

♫ Ein Wintergoldhähnchen singt lang und zart mit hübschen Trillern zwischen Windböen in der „Teufelsküche“ am Lech ♫

Buntspechte keckern, Tannenmeisen singen, dazwischen verwehte Erlenzeisigrufe, Kohlmeisenläuten im Hintergrund. Dann:

♫ Die Misteldrossel setzt wieder ein ♫.

Ich bin erleichtert, weil sich Frühlingssimmen in die trübe Stimmung am Ende des Hochwinters mischen. Während ich vorsichtig den Eispfad am Stauweiher hinab trapse, klingen die Vogellieder mir nach. Die schnell verwehten Goldhähnchenstrophen, die den Ausgang des Winters besingen, der kräftige Drosselgesang, der den anrückenden Vorfrühling einlädt, zumindest in mein Gemüt.

Vorfrühlingsgesänge
Höckerschwäne und Pfeifenten

Kaum bin ich wieder unten am Ufer des Lech, flitzt ein Eisvogel vorbei – besser zu hören als zu sehen. Eine Sumpfmeise singt ein paar Klapperstrophen. Kohl- und Blaumeisenlaute. Auf dem Wasser residieren die Höckerschwäne, wie so oft umwimmelt von ihrem „Hofstaat“, zu dem nach wie vor die schönen Pfeifenten gehören – Wintergäste aus dem Norden, die noch lange nicht abgezogen sind.

Vogelgesänge – eine Einführung

Amselmännchen im März

Vogelgesänge – eine Einführung

Für viele Menschen ist das, was die Vögel von sich geben, Hintergrundgeräusch, im besten Fall Piepsen oder Zwitschern. Für die Vogelkundler rufen oder singen die Vögel, und ihr Gesang dient allein der Revierbehauptung und Weibchenanlockung.

Durch mein eigenes jahrelanges intensives Lauschen bin ich davon überzeugt, dass Vogelgesänge zwar a u c h diese Funktion haben – aber dafür allein würden schon ein paar Schreie, Krächzer, Piepser ausreichen – unterschieden durch Tonhöhe, Klangfarbe, Lautstärke, Länge. Und was immer wieder vergessen wird: auch viele Vogelweibchen können singen!

Schon Alwin Voigt schrieb in seinem Exkursionsbuch zum Studium der Vogelstimmen, einem Klassiker, 1894 zum ersten Mal erschienen und seitdem immer wieder neu aufgelegt (auch ich habe es noch als Schülerin mit mir herumgeschleppt): Der Vogel singt infolge geschlechtlicher Erregung, also am fleißigsten, wenn diese ihren höchsten Stand erreicht, zur Zeit der Fortpflanzung – das ist altbekannt. Indessen, wer genauer nachforscht erhält bald Belege genug, dass auch andere Anlässe einen Vogel zum Singen anregen können. … Paarungsrufe von Meisen und Kleibern kann man an jedem schönen Morgen mitten im Winter zu hören bekommen. Oder wer wollte von einer Sangesperiode der Sperlinge reden? Zwar macht sie die Härte des Winters etwas ruhiger, aber sobald ein milder Tag kommt, setzt das Schwatzen in den Morgen- und Abendstunden wieder kräftig ein, und wenn’s einem in der wärmenden Sonne recht behaglich wird, stammelt er auch ein Liedchen.

♫ Haussperlinge, auf Büschen hockend und im großen Chor sonnenselig singend und schwatzend ♫

Tatsache ist, dass große Sänger wie Drosselvögel, Stare, Grasmücken, Spötter Frühjahr für Frühjahr neue Motive entwickeln und weiter variieren, dass sie modifizieren, imitieren, komponieren. Dafür wachsen ihnen sogar neue graue Hirnzellen – für Zebrafinken ist das belegt.

Olivier Messiaen, ein exquisiter Vogelkenner, hat immer wieder betont, dass Vögel im Laufe der Evolution – seit etwa 30 Millionen Jahren, also lange bevor der Mensch die Weltbühne betrat – alle Kunstgriffe und -kniffe entwickelt haben, die auch unsere menschliche Musik kennzeichen: Phrasen, Vorschlag, Takt, Rhythmen, Tonarten, Modi, Viertel- und Dritteltöne, Accelerando, Ritardando, Crescendo, Glissandi, Triller, Koloraturen, Intonieren, Transponieren …
Messiaen: Ich habe den Eindruck, dass die Vögel alles gefunden haben, sogar die Mischungen von Klangfarben, die man heute sucht, und Nachhalleffekte.

Dass Vögel so kunstvoll singen, mit diesem Drang, immer wieder Neues auszuprobieren und sich ins Vielfältige zu verzweigen, ist etwas, was die Wissenschaft nicht erklären kann.
Ich bin davon überzeugt, dass Vogelgesänge in ihrer wilden Vielfalt und Ursprünglichkeit große Lobgesänge auf die Schöpfung sind. Schöpfungsklänge, könnte man sagen, die sich in jedem Moment neu erfinden. Wenn man ihnen wirklich zuhört, begreift man das schnell und wird davon ergriffen und fühlt sich zurück geführt zum Ursprung der Schöpfung. Am Anfang war das Wort, heißt es in der Bibel. Und das Wort war Klang, lässt sich nahtlos anschließen.

Jeder Vogel ist sein eigenes Leitmotiv, sagt Messiaen. Ein Vogel, und sei sein Laut noch so einfach, wiederholt sich nie. Genau das macht die Lebendigkeit und Faszination von Vogelgesängen aus.

Amsel & Co. im Innenohr

Wer Ohren hat zu hören, der höre! Ein Ratschlag, eine Weisheit, die längst ungehört verhallt ist.
Obwohl Vögel nicht so sprechen, wie wir es verstehen, sind sie in der Lage, in komplexer Weise zu rufen, zu singen und zu musizieren und sich dabei sehr erfolgreich miteinander zu verständigen. Was wir davon mitbekommen, sind leider nur Bruchstücke – Getwitter eben in unseren menschlichen Ohren.

Zum Beispiel Amseln, die uns immer noch sehr nahe sind – diese schwarzen Drosseln, die aus der Schwärze der Wälder zu uns gekommen und in unseren Dörfern und Vorstädten, Park- und Gartenlandschaften heimisch geworden sind. Wo sie, seit 150 Jahren, ganz nahebei auf Dächern und Baumspitzen singen und konzertieren.

Eine Amsel singt morgens um 6:00 Uhr in den Weinbergen von Eppan

Weil sie scheinbar so alltäglich sind, wird meistens verkannt, dass sie noch viel kunstvoller und differenzierter singen, als ein aufmerksames menschliches Ohr es wahrzunehmen vermag. Denn obwohl unser Hörvermögen feiner gestuft und gestimmt ist als unser Sehvermögen, reicht es nicht an das Auflösungsvermögen der Vogelohren heran.
Das Auge tastet Oberflächen ab, springt von Blatt zu Blatt und folgt der Bewegung des Vogelschnabels. Während das Ohr den Raum in sich einlässt, der von Klängen geformt und gestaltet wird.
Das Auge fügt Licht und Schatten zu einem bewegten Bild zusammen – das Ohr holt Wind und Lied herein, so dass sie im Innenohr singen.

Vögel singen für andere Vögel! Dennoch können ihre Gesänge auch den Menschen „Ohrenlichter“ aufstecken und belebend und beglückend sein. Wenn der Raumklang der Vogellaute erst einmal eingedrungen ist ins Ohr – und damit zwangsläufig auch unter die Haut – öffnet sich eine neue Welt. Eine Welt, die uns immer schon umgab, die wir nur vergessen haben, eine freigiebige Welt, die keinerlei Absichten verfolgt. Musik frei Haus, Garten, Spaziergang in unendlichen Klangvariationen, in denen das Leben vibriert, nicht das Rattern von Maschinen.

Der Nachtigall lauschen

Viele Vögel haben es in der Kunst der Komposition, Variation und Improvisation zu großer Meisterschaft gebracht, unsere heimischen Allerwelts-Amseln allen voran. Obwohl auch die Kohlmeise sich als ein großer Variationskünstler entpuppt. Wenn man ihr und ihren Vogelgenosssen nur lange genug zuhört und ihre Themenwechsel verfolgt, versteht man schnell, dass jeder Vogel sein eigenes Leitmotiv ist. Das gilt für die heimischen Nachtigallen, Sperlinge, Rotkehlchen und Rabenkrähen ebenso wie für die Schamadrosseln und Orpheuszaunkönige des tropischen Regenwaldes.
Gar nicht zu reden von Spöttern wie dem Sumpfrohrsänger oder Staren, diesen Flötenmeistern und Bauchrednern, die im Frühjahr wahre Jamsessions zum Besten geben.

Fünf Stare konzertieren auf dem Dorfspielplatz um ihre Nistkästen herum. Ab 01:20 mischt eine Elster ihr raues Schackern dazwischen

Obwohl die Töne und Klänge, die Vögel hervorbringen können, an ein arteigenes Grundprogramm gebunden sind, kennzeichnet auch den scheinbar einfachsten Vogellaut stets das vibrierende Neuerfinden von Nuancen: das ist ja schon Thema und Leitmotiv in Hans Christian Andersens Kunstmärchen von der Nachtigall und dem Kaiser von China, der mit einem aufziehbaren mechanischen Vogel die lebendige Nachtigall vergrämt:
Aber die armen Fischer, welche die wirkliche Nachtigall gehört hatten, meinten: „Das klingt wohl ganz hübsch, es läßt sich auch eine Ähnlichkeit der Melodie nicht ableugnen, aber es fehlt doch etwas. Was es nur sein mag?“

Eine Nachtigall singt in einer Mittsommernacht am Berliner Wannsee (kleiner Ausschnitt)

Ja, was mag es sein, das Lebendige, das immer wieder neu klingt, trotz tausendfacher Wiederholungen, die, wenn man genauer lauscht, tausendfache Modifikationen sind? Niemand kann da eine eindeutige Antwort geben.
Wer aber Ohren hat zu hören, der höre! Das Ergebnis wird erstaunlich sein.