Kleine Wildnis zwischen Holler und Heckenrosen – Ortstermin mit Neuntötern
23. Juni 2022
In einer Landschaft, in der nichts unberührt ist und jedes Fleckchen vom Menschen in Angriff genommen wurde, gehören Kiesgruben zu den allerdurchwühltesten Orten. Dennoch macht sich hier, wo kleine Bereiche ungestört bleiben, schnell wieder etwas breit, was ein wenig verächtlich Wildwuchs genannt wird, hochtrabender: Sekundärhabitate, in denen sich Vögel, Amphibien und Insekten ansiedeln, die sonst keine Bleibe mehr haben.
Neuntöter zum Beispiel.
Nicht weit von unserem Wohnort schlingt sich ein holpriger Weg, meist verlassen, um eine kleine Kiesgrube herum. An der einen Seite eine steile Böschung, die zum Feld hin abfällt. Das wiederum erstreckt sich zwischen Straße und Wald. An der anderen Wegseite ein Maschendrahtzaun. Er grenzt die Kiesgrube ein, die nur gelegentlich von Transportlastern befahren wird. So weit ich das wahrnehme, wird hier nicht mehr abgebaut, nur noch befüllt. Wildwuchs drängt sich vor und hinter dem Zaun. Zur Böschung hin ein ineinander verwachsenes Holler- und Wildrosengebüsch: Ideal für ein Nest im Verborgenen.
Hier müssen sie gestern ausgeflogen sein. Ständig war das Männchen auf seiner Ansitzwarte präsent und ständig warnte das Weibchen. Im Schattenriss war auch zweimal ein Altvogel mit einem Schnabel voll Insekt zu sehen, einem großem Insekt, mit dem es im Busch verschwand.
♫ … und ständig warnte das Weibchen ♫
Jetzt ist es hier so still, als wenn gestern nichts gewesen wäre. Nur kurz, denn es ist noch früh, lärmt ein einzelnes Auto vorbei. Und noch einmal lästiges Reifengeräusch. Am Himmel weiße Bauschewolken, bewegen sich kaum. Auf dem langen kahlen Zweig hinterm Zaun, auf dem gestern ständig das Männchen saß: nichts.
Ich spüre, wie die Sonne langsam meinen Rücken wärmt und baue zögernd mein Spektiv, meine Kamera auf. Berge mich, so bewegungslos wie möglich, an der Seite zwischen Wildkräutern und Holler. Deutlich kann ich fühlen, wie mein Eindringen die Stille stört, die hier wie in allen Naturräumen herrscht: dies gärige Knistern und Knispern, dies tonlose Gespräch, das all das Lebendige ringsum stets und ständig miteinander führt und das unseren tauben Ohren zumeist verschlossen bleibt.
Ich versuche mich nicht zu rühren, wie weiland Annie Dillard, wenn sie sich auf Bisamrattenpirsch befand. In ihrem Buch Pilger am Tinker Creek beschreibt sie in dem großartigen Kapitel Pirschen, wie sie sich Bisamratten nähert – auch Zwergbiber genannt -, die keine Ratten und extrem wachsam sind, fast noch wachsamer als Vögel:
Das Pirschen ist eine reine Fertigkeit … . Glück spielt selten eine Rolle. … Noch mehr als Baseball ist Pirschen ein Spiel, das total in der Gegenwart gespielt wird. Zu jeder Sekunde entscheidet mein Geschick, ob die Bisamratte kommt oder bleibt oder flieht. Kann ich mich still verhalten? Wie still? Es ist erstaunlich, wie viele Leute nicht still halten können oder wollen. Ich könnte und wollte im Haus keine dreißig Minuten stillhalten, aber am Fluss werde ich langsam, zentriere mich, werde leer. … In meinem Kopf sage ich nicht: Bisam! Bisam! Da! Sondern ich sage nichts. Wenn ich in einer Stellung verharren muss, mache ich mich nicht steif … sondern werde ruhig. Ich zentriere mich, wo ich gerade bin, ich finde eine Balance und eine Ruhehaltung. Ich ziehe mich nicht zurück in mein Innenleben, sondern aus mir heraus, so dass ich ein Sinnengewebe bin. Ganz gleich, was ich sehe, es ist genug, mehr als genug. Ich bin die Haut auf dem Wasser, auf der der Wind spielt; ich bin Blütenblatt, Feder, Stein.
aus: Pilger am Tinker Creek, Matthes & Seitz, Berlin, Naturkunden No. 28. Im Englischen Original 1974 erschienen
Ja, das ist es, das trifft genau den Punkt: Aus sich selbst heraustreten. Warten, nichts erwarten. Nur ein Ohr, ein Auge, ein Sinnengewebe sein! Jetzt nehme ich die erste flüchtige Bewegung wahr, dort, im Gebüsch weiter unten am Weg, das von Brennesseln umwuchert wird. Langsam gelingt es meinen Augen, licht- und schattenerfüllte Lücken zwischen den Blättern zu unterscheiden. Bin plötzlich sehend und kann sie erspähen: Ja, oja, da hocken sie in einer gut belichteten Lücke zwischen den
Zweigen, rücken und ruckeln ein wenig hin und her oder huschen kurz auf und ab, bewegen sich sonst kaum: drei Junge, gerade flügge; offenbar gut genährt und recht still auf Futter wartend. Dass sie so still sind, wundert mich. Denn gelegentlich betteln junge Neuntöter recht laut. Mag sein, dass diese hier zu weit weg sind, zu leise oder jünger als die auf der älteren Tonaufnahme.
♫ … denn gelegentlich betteln Neuntöterjunge recht laut ♫
Wenn sie nicht füttern, hocken Männchen und Weibchen ebenfalls auf diesem Gebüsch, besser sichtbar als die Jungen, auch sie heute recht still. Ich entdecke sie erst nach und nach. Das Männchen sitzt oben auf einem hervorspießenden kahlen Zweig, das Weibchen weiter unten, viel unauffälliger.
Spät sind sie aus dem südlichen Afrika zurückgekommen und schon ab Mitte Juli , spätestens im August wird sich der Familienverband auflösen und aus diesem Brutgebiet verschwinden, die Alten früher als die Jungen. Um, jeweils einzeln, schon früh im Herbst die lange Reise nach Afrika anzutreten, über die Sahara hinaus.
Neuntöter gelten in Deutschland als noch nicht gefährdet, doch ist ihr Lebensraum durch die sogenannte Flurbereinigung stark geschrumpft. Ihre nahen Verwandten, Rotkopfwürger und Schwarzstirnwürger, sind in Bayern längst ausgestorben, seit Ende der 70er Jahre, und der Raubwürger wird auf der Roten Liste als „vom Aussterben bedroht“ geführt.
Wie gut, dass sie hier vor Ort Erfolg hatten, die schönen Vögel mit den hässlichen Namen. Neuntöter, Rotrückenwürger, Dickkopp, Dorndreher – weil sie erbeutete große Insekten manchmal als Vorrat oder Zerkleinerungshilfe auf Dornen aufspießen, eine Kunst, die die Jungen von ihren Eltern erst lernen müssen.
Heckenschmätzer wurden sie früher ihres Rufs wegen genannt. In dieser Aufnahme, die ich erst gestern gemacht habe, sind die schmätzenden Laute von Weibchen und Männchen besonders deutlich zu hören. Zwischendurch, ab 0:16, Bettelrufe der Jungen, die sich nun doch ein wenig Gehör verschaffen. Im Hintergrund singt, ab 0:07, besonders beharrlichlich eine Goldammer.:
Der kuriose Neuntötergesang ist dagegen selten zu hören, und nur zu Beginn der Brutsaison
Anfang Mai, als ich in den Raistinger Wiesen Tonaufnahmen von Braunkehlchen machte, ist mir zufällig so ein langer Gesang ins Mikro geraten. Er hat mich zunächst irritiert, dann zunehmend fasziniert. Weil ich ihn hörte, ganz unvermittelt, während ich ein Braunkehlchen im Visier hatte: ein leises, eigenartig krauses Geschwätz mit vielen Imitationen und manchmal schönen Tönen dazwischen.
♫ Neuntötergesang mit Feldlerchenbegleitung in den Raistinger Wiesen am Ammersee ♫
Jetzt ist die Jahreszeit längst über Neuntötergesänge hinweggegangen. Sie werden erst wieder, mit Glück, im nächsten Mai zu hören sein. Und, wie sehr zu hoffen ist, auch an diesem wildwüsten dornigen Ort!