Verwildernis

Verwildernis

Am Zellsee - Verwildernis
Grüne Wildnis, Ende Mai am Zellsee, Oberbayern

Wildnis im ursprünglichen Sinne gibt es längst nicht mehr. Und was heißt ursprünglich? Wo fängt ur an, wo hört es auf? Ich meine damit aber nur: Lebenswelten ohne die Zurichtung durch den Menschen, insbesondere durch den Homo faber, der seine eigenen Welten auf Kosten anderer schafft. Ausrottet statt zu nehmen und zu geben.

Die Natur, mit der wir leben, oder besser: die wir mit uns leben lassen, oder besser: die wir noch neben uns leben lassen, ist von unserer Zivilisation wo nicht vernichtet, umgemodelt worden. Verformt. In Nutzbares umgewandelt. Das Wilde – dieser „Wildwuchs“ einer sich selbst überlassenen, sich selbst regulierenden Natur, die unablässig wuchert, überwuchert, mutiert, vergeht, neu erschafft – ist offenbar verschwunden, zumindest aus unserem Blickfeld.

Geblieben sind scheinbar gebändigte Reste – der Wolfshund, der an der Leine zockelt, der Tiger, der im Zirkus durch brennende Reifen springt, der plappernde Beo im Käfig, Bakterien, die sich durch Antibiotika zeitweise kleinkriegen lassen (aber schon bei TBC funktioniert das nicht mehr). All das: s c h e i n b a r gebändigt. Inzwischen ahnen wir, dass dieser Schein mächtig trügt. Siehe Trümmerlandschaften, die von der Natur zurückgeholt werden. Siehe Tschernobyl, Fukushima und Tsunami. Siehe Viren, Epidemien und Pandemien, zuletzt – und sicher nicht zuletzt – „Corona“.

Corona, oder Korona, war früher für mich ein schönes, machtvoll romantisches Wort. Der heiße Strahlenkranz um die Sonne, der bei Sonnenfinsternissen mit bloßem Auge zu sehen ist. In der Antike ein kultischer Kranz aus Blüten, Blättern und Zweigen oder ein vorragendes Kranzgesims. Jetzt meint es in der Essenz die unbezähmbare Kraft, die sich, wo sie eingedämmt wurde, neue Wirkwege sucht und uns auf grausame Weise heimsucht samt unserem Sitz auf dem hohen Ross.

Diese Kraft selber, diese Essenz ist für uns unerreichbar. Kann weder zerstört noch manipuliert werden. Das ist alles, was ich darüber weiß, und wenn auch mein Verstand es nicht fassen kann, versuche ich doch, diese Kraft in der sogenannten Natur, die uns noch umgibt, zu entdecken und mich daran zurückzubinden.

Rückbindung an den Gesang eines Vogels, dem ich zuhöre mit ungeteilter Aufmerksamkeit. An die Schönheit eines Wildkrauts, das sich zwischen Steinen und Beton hervorzwängt oder ungerufen im Garten wächst. Eines Fuchses, der über die Wiese streunt mit Morgentropfen im Fell. Einer Hornisse mit ihrer Urgetüm-Anmut, die sich hinter das Fenster verflogen hat und um Befreiung brummt. Eintauchen in die bloße Wahrnehmung. Dem Gesang, dem Fuchsgang, dem Hornissenflug folgen ohne einzugreifen. Sich rühren lassen, ohne sich zu rühren. Was nicht ausschließt, der Hornisse einen Türspalt zu öffen.

Vorurteilslos wahrnehmen, wertschätzen und würdigen: eine schwierige Übung. Und wertschätzen ein altmodisches Wort, dessen Leben und Frieden stiftende Bedeutung weithin vergessen worden ist.

Die Natur der Wildnis ist die unbezähmbare Kraft, die ich in jedem Wolkenstrich und jedem Vogelschiss entdecken kann. Wer hätte das besser beschrieben als Annie Dillard in ihrem großen Nature Writing Essay Pilger am Tinker Creek! Und der Akt, dies ins Bewusstsein zurückzuholen, ins Ohr und unter die Haut, ist das, was ich Verwildernis nenne. Sie tut uns allen not.