Die Musik der Vögel – die Vögel in der Musik

Die Musik der Vögel – Vögel in der Musik

überarbeiteter Vortrag, gehalten beim LBV Landsberg im November 2017 und in Berlin-Zehlendorf 2019

Olivier Messaen: Partitur-Ausschnitt aus Le Loriot – Fauvette des jardins, Gartengrasmücke

Vor Jahren habe ich meine Klangreise durch die Welt der Vogelstimmen mit der Frage begonnen: Warum singen Vögel? Und warum so unterschiedlich?
Schwierige Fragen, kaum zur Gänze zu beanworten. Um sie wenigstens einzukreisen, ging es lange darum, zunächst einmal zu untersuchen, wie Vögel singen.
Heute steht die Frage nach der Musikalität der Vögel, die bei meinen Vorträgen schon immer mitgelaufen ist, im Mittelpunkt. Ist das wirklich Musik, was die Vögel so von sich geben, und wie spiegelt sich dies in der Musik unserer eigenen Gattung wider? Und was eigentlich ist Musik?

Vogelrufe

Am Anfang steht das genaue Hören! Wenn man sich diese Darstellung des von Francesco von Assisi genauer ansieht, so wird einem klar, dass er nicht nur den Vögeln gepredigt, sondern ihnen auch – man beachte nur seine großen Ohren! – genau zugehört haben muss!

Bei den Lauten, die Vögel bei Erregung äußern und mit denen sie sich über Gefahren verständigen, denkt man nicht gerade an Musik. So ist es auch bei uns Menschen: Ist Gefahr im Anzuge, singen selbst unsere besten Sänger nicht, sondern schreien oder schweigen (außer in der Oper).
Im Übrigen sind die Warn- und Alarm-, die Erregungs- und Bettelrufe der Vögel, die vor allem dem unmittelbaren Überleben dienen, so einfach strukturiert, dass sie auch von anderen Vogelarten verstanden werden können. Und müssen. Kein Vogel lebt für sich allein!

Oft zu hören sind zum Beispiel die Warnrufe unserer Singvögel – hier habe ich unterschiedliche Warn-, Erregungs- und Kontaktrufe hintereinander geschnitten:

AMSELN und MISTELDROSSELN (Schnärrer) schlagen im Wald Alarm, vielleicht ist ein Habicht unterwegs – ein Amselpaar zetert frühmorgens im Wald, dazu rufen Gimpel und Eichelhäher – ab 00:52 rufen durchziehende TRAUERSCHNÄPPER – dann „duckt“ eine Amsel: Bodenfeindalarm – dann, sehr hoch: „Siih“, der Luftfeindalarm einer Amsel im Garten (über 800 Hz, kann mit Computer-Mikro nicht gehört werden) – am Schluss die scharfen Alarmrufe von MEHLSCHWALBEN: eine Katze nähert sich ihrer Brutkolonie

Die Bettelrufe von Jungvögeln gehören ebenfalls ins Repertoire angeborener Verhaltensweisen, die dem unmittelbaren Überleben dienen:

Hier betteln nacheinander: GRAUREIHER-Nestlinge in einer Reiherkolonie, Ende Juni – drei HABICHT-Ästlinge im Wald, Ende Juni – vier WALDOHREULEN-Ästlinge am Ammersee Süd in einer lauen Maiennacht, auf einem Teppich erregter Insekten- und Laubfroschgesänge
Am Tage versteckt, doch mit Glück zu erspähen – bei Einbruch der Nacht unsichtbar, aber unüberhörbar: Waldohreulenästlinge

Auch viele andere Vogelrufe, deren Botschaft dennoch nicht leicht entschlüsselbar ist, sind eher einfach strukturiert: z.B. Kontaktrufe und sog. Stimmfühlungslaute. Schon der Embryo im Ei kann solche Laute erzeugen und damit Signale an seine Umwelt abgeben. Bei Nestflüchtern, wie z.B. der Wachtel, dienen diese Rufe einer gemeinschaftlichen Abstimmung, die den synchronen Schlupf aller Küken bewirkt!
Auch für den Zusammenhalt von Vogelschwärmen sind solche Kontaktrufe wichtig. Für ziehende Kraniche und Graugänse ebenso wie für Kleinvogeltrupps – Finken und Bluthänflinge zum Beispiel.

Darüber hinaus gibt es viele spontane Lebensäußerungen, die Empfindungen des Augenblicks widerspiegeln. Denn mehr als andere Lebewesen erweitern Vögel mit ihren Stimmen die Grenzen ihres Körper sozusagen in den Klangraum hinein, den sie ganz auszufüllen trachten – und nebenbei bemerkt: inzwischen weiß man, dass die großen Solisten unter den Singvögeln insbesondere die Grenzen ihrer Klangräume, und nicht die ihrer Nahrungsreviere, mit ihren Gesängen markieren und verteidigen. Dass sie also Frieden schaffen ohne Waffen und so die Predigt des Francesco auf fruchtbaren Boden gefallen ist!

Und hier rufen nacheinander: Ein RAUBWÜRGER Ende Oktober, der von einer Feldhecke abfliegt – jagende MAUERSEGLER im Juli – ein GIMPELpaar, das durch seine Rufe Kontakt hält

Das klingt nun schrill oder, was die Gimpelrufe betrifft, nur mäßig melodisch – wenn auch die Rufe lebendiger Vögel nie einer wilden Brillanz entbehren.

Was aber ist Musik?

Zunächst einmal: wie steht es mit diesen Klängen:
♫ KRANICHE auf den Feldern bei Brodowin, Brandenburg, rufen im Duett ♫

und mit diesen:
♫ ein KIEBITZpaar singt im Duett beim Balz- und Revierflug über den Feldern seines Brutreviers ♫

Solche Duette sind deutlich aufeinander abgestimmte Klangereignisse. Bei den Kranichen wird ein bestimmter Trompetenklang-Akkord immer wieder zweistimmig intoniert; auch die Kiebitze singen, ab 00:22, fast synchron: das erfüllt schon mehr als eine Bedingung für Musik.

Die Rufe von neun Rostgänsen, die sich eines schönen Maientages nebeneinander auf einem Kiesgrubendamm aufbauten, gehören zu meinen Lieblingschören. Sie klingen eher originell als melodiös und werden – spontan – gemeinsam organisiert und rhythmisiert und erfüllen damit ebenfalls wichtige Voraussetzungen von Musik.

♫ 9 ROSTGÄNSE konzertieren gegen Abend auf einem Kiesgrubendamm im Chor ♫

Alle drei Arten gehören nicht zu den Singvögeln – und sie singen doch, nicht nur im ornithologischen Sinn!!

Der Drosselrohrsänger gehört hingegen zu den Sperlings- und Singvögeln. Sein originelles Lied ist hart im Klang, muss es sein, um das Rauschen großer Schilfwälder zu übertönen, in denen er vorrangig brütet und singt. Sein Gesang ist in Strophen gegliedert, die vielfältig variiert werden, und deutlich rhythmisiert.

♫ Zwei DROSSELROHRSÄNGER singen gegen Ende Juni in einer kleinen verschilften Moorwiese ♫
und übertönen hier alle anderen Vogel- und Amphibienstimmen

Die Frage, ob es sich bei diesen Tonbeispielen um Musik handelt, würde ich eindeutig mit ja beantworten. Natürlich ist es kein Jazz, kein Pop, keine E-Musik. Keine kulturelle, wohl aber eine evolutionäre Hochleistung: VogelMusik eben.
Nach meiner Wahrnehmung beginnt Musik, wenn zu der bloßen Lautäußerung Rhythmus, Melodie und Komposition hinzukommen. Schlicht gesagt ist Musik also in der Zeit- und Tonfolge organisierter Klang. Und Melodie ist ja erst einmal nichts anderes als eine gestaltete Folge von Klängen. Das alles wird uns von den Vögeln reichlich geboten.

Und darüber hinaus, um es mal überspitzt zu sagen, ist wie in der Menschenmusik so auch in der Musik der Vögel der Klang an sich die erste und eigentliche Botschaft. Alles andere ist zusätzliche Sinngebung, Zwecksetzung, Interpretation, Empfindung, Gefühl der Zuhörenden.
Aber es gibt bestimmte Hörgewohnheiten und Musiktraditionen, durch die manche Klänge aus der Vogelwelt den Menschen ferner oder näher rücken.
Eine gewisse Fremdartigkeit bleib jedoch immer bestehen, schon deshalb, weil Vögel buchstäblich in einer höheren Liga spielen – viele ihrer Gesänge liegen im Schnitt um 4000 Hz und höher, reichen mit Obertönen sogar bis 14 000 Hz, während die menschliche Stimme in der Regel weit unter 4000 Hz liegt. Die strahlende Tenorstimme, der sog. Sängerformant, liegt um 3000 Hz und muss in jahrelangen Übungen erworben werden.

Kuckuck und Barock

Beim Kuckucksruf sind sich alle einig: er gilt als einfaches, aber wirksames Gesangselement und ist als harmonischer Akkord – meist aus einer kleinen, manchmal aber auch einer großen Terz oder einer Quarte bestehend – in der Barockmusik ein sehr beliebtes Motiv. Das bekannte Volks- und Kinderlied Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald ist so einprägsam, weil die sog. Kuckucksterz darin achtmal in verschiedenen Tonlagen angestimmt wird!
Zur Veranschaulichung hier ein Beispiel für die Verwendung der Kuckucksterz in der Barockmusik: Dorothee Mields singt The Cuckoo von Thomas Arne (Ausschnitt), gefolgt von einem typischen Kuckucksgesang aus unserem Hagenheimer Wald:

... und am Ende trillert ein KUCKUCKsweibchen zu einer Gartenschwanzstrophe

Bei diesem Barockstück steht der Wiedererkennungswert des Vogelrufs im Mittelpunkt, denn der war und ist ja in der Gunst des Publikums ein nicht zu unterschätzender Faktor. Aber selbst hier geht es nicht eigentlich nur darum, die Stimme des Vogels genau nachzuahmen, wie das die alten Vogelflöten viel besser konnten, sondern hier wird die menschliche Untreue an Hand des Kuckucks thematisiert und sogar mit einem eindeutigen Liedtext begleitet.
Hierzu zwei kleine historische Anmerkungen: In der geistlichen Musik des Mittelalters galt die Kuckucksterz als sexuell aufgeladen und war deshalb verboten. Und im barocken England galt die Flöte als rein männliches Instrument, deren Spiel für Frauen als obszön verpönt war.

In der Natur übrigens überschlagen sich die Kuckucksstimmen oft mehrfach, und das Weibchen steigert sich in einen schönen Triller hinein – beide singen auch gern im Duett:

♫ KUCKUCKsmännchen und Kuckucksweibchen singen und trillern am Ammersee, dazu singt unablässig ein Sumpfrohrsänger ♫

Trillern

Ein Distelfink holt Samen aus dem Distelkopf einer Karde

Das Trillern ist ein sehr beliebtes Motiv in der Vogelmusik und kann vorzüglich mit der Flöte nachgeahmt und ausgemalt werden So ist es kein Wunder, dass eins der bekanntesten Vogelmusikstücke aus dem Barock dem Stieglitz bzw. Distelfink gewidmet ist. Er war ja in Italien mit seinen prachtvoll bunten Farben einer der populärsten Vögel, und er war auch in Gemälden der am häufigsten abgebildete Vogel. Was er mit qualvoller Gefangenschaft bezahlen musste.

Auch Vivaldi malt in seinem berühmten „Il Gardellino“ mit Flötentrillern, Tonwiederholungen und rasanten Passagen den Eindruck eines quirligen bunten Vogels mit lebhaftem hohem Trillergesang.
Im Folgenden daraus ein kleiner Ausschnitt, den ich zum Vergleich und als Kontrast in eine Originalaufnahme aus unserem Dorf eingefügt habe. Also Vivaldis barocker Distelfinktriller, gespielt von dem wunderbaren Flötisten Stefan Temmingh, versus Stieglitz live aus Hagenheim auf Leitungsdraht beim Dorfspielplatz:

Die rauen Stimmen im Hintergrund dieses STIEGLITZliedes stammen von Wacholderdrosseln

Es trillert in der Menschen- wie in der Vogelmusik also allenthalben!
Hier noch einmal kurz das Trillerduett eines Zwergtaucherpärchens in dem überfluteten Wiesenareal eines kleinen Krötenweihers bei Thaining, in dem die beiden ihre Jungen großgezogen haben – eine ganz besondere Wassermusik:

Morgendliches Trillerduett zweier ZWERGTAUCHER – auch viele Vogelweibchen können singen! – in einem über die Ufer getretenen Krötenweiherareal

In der Vogelwelt werden auf diese und ähnliche Weise viele Duette und Konzerte gesungen.
Ganz speziell in den Weiten der Regenwälder dienen Duette dem Zusammenhalt der Pärchen: In der folgenden Tonaufname duettiert ein tropisches Zaunkönigspaar, das ich auf einer Finca in Costa Rica angetroffen habe. Sie besuchten dort regelmäßig eine Kokospalme und labten sich zusammen mit anderen Vögeln und Eichhörnchen an einer aufgepickten oder aufgeplatzten Kokosnuss.

Duett eines ROSTRÜCKEN-ZAUNKÖNIGpaars. Im Hintergrund singt und ruft (Fragezeichenruf!) der Nationalvogel Costa Ricas, die äußerlich unscheinbare Gilb- oder Schlichtdrossel (Turdus Grayi). In 01:04 ruft deutlich der „Kiskadee“ seinen Namen

Amsel und Orpheuszaunkönig

Zu den ganz großen Sängern und Komponisten der mitteleuropäischen Vogelwelt, die vielen Menschen besonders angenehm in den Ohren klingen, gehören als allbekannte Solosänger die Amseln. Zu fragen ist nur: Ist es ein Wunder oder eher folgerichtig, dass dieser einst so scheue Waldbewohner so nahe an den Menschen heranrücken konnte?

Hier der Beginn eines mit seinem Hall besonders schönen Frühkonzerts aus meiner Heimatstadt, wo hinter langen Häuserreihen viele Gärten zusammen stoßen.

Ein AMSELhahn beginnt um 4:29 seinen klangvollen entspannten Motivgesang, andere Amseln außerhalb seiner Klanggrenze antworten ihm

Vögel singen am Besten und Einfallsfallsreichsten, wenn sie, angeregt durch die Lieder anderer Artgenossen um ihr Klangrevier herum, in entspannter Atmosphäre singen können, ohne die Aufregungen der Revierverteidigung.
In der folgenden Aufnahme geht derselbe Amselhahn wie oben an einem ganz frühen Morgen Ende Juni, nachdem er sich länger als sieben Minuten lang warm gesungen hat, plötzlich zu einem Subsong über: das klingt mit seinen Schnörkeln und Kicksern nach Entspannung und lustvoll-spielerischer Übung, gesungen nur für sich allein. Und das war es wohl auch.

Eine AMSEL flicht in ihren kunstvollen Motivgesang einen kleinen Schwatzgesang, einen sogenannten Subsong

Interessant ist, dass sich gar nicht besonders viele, extra der Amsel gewidmeten Musikstücke wie Il Gardellino von Vivaldi finden lassen, abgesehen von Messiaens Le Merle noire. Denn die Amselmotive und -lieder, die unsere Schwarzdrosseln jedes Jahr neu erfinden, sind ja längst eingegangen in die klassiche Musik. So ist es kein Wunder, wenn Menschen immer wieder aus Amselgesängen klassische Motive, insbesondere von Mozart und Beethoven, heraushören und sich die die Frage stellen: haben diese Vögel die Klassiker gehört oder die Klassiker die Vögel?
Wenn man weiß, dass Vögel ihre Gesänge schon seit mindestens 30 Millionen Jahren entwickelt haben, liegt die Antwort wohl klar auf der Hand!

Bei der Verfertigung und Vervollkommnung des folgenden schönen Amsel-Motivs durfte ich einer Amsel um unser Haus herum ein ganzes Frühjahr lang zuhören – ein ganz besonderes Erlebnis.

Eine AMSEL singt ein besonders schönes Motiv, an dessen Entwicklung sie seit Frühlingsbeginn „gearbeitet“ hat

Und hier noch ein besonderes Amselkunststückchen aus Potsdam: eine Amsel singt Töne einer Tonleiter – einer vogelspezifischen „schwarzgedrosselten“ Tonleiter, wie ein Freund das genannt hat:

Die Tonleiter-AMSEL aus Babelsberg singt drei Phrasen mit Tonleiter, zur Verfügung gestellt von Wolfgang Püschel

Durch Tempominderung werden Einzelheiten des Amselliedes noch deutlicher hörbar

Was nun folgt, ist ein Drosselverwandter aus dem brasilianischen Regenwald, ein Orpheuszaunkönig. Mit seinen reinen Flötentönen und genialen Tonsprüngen gehört dieser kleine Vogel zu den großen klassischen Solisten der Vogelwelt – wenn er auch zwischen seinen Arien durchaus zaunköniggemäß schnärrt.
♫ Ein ORPHEUSZAUNKÖNIG oder Musician Wren (Cyphorhinus arada griseolateralis) singt im Brasilianischen Regenwald, aufgenommen von Andrew Spencer ♫

Bei solchen Sängern kann man nur sagen: wenn es allein um die Funktion der Revierverteidigung und Weibchenanlockung ginge, dann wären Vögel mit solchen Fähigkeiten schlicht überqualifiziert. Und im Grunde steht es inzwischen außer Zweifel, dass bestimmte biologische Funktionen der Vogelgesänge nicht ausschließen, dass Vögel darüber hinaus gern und lustvoll singen. Um es mit dem Musiker David Rothenberg zu sagen:
Warum singen Vögel? Aus den gleichen Gründen wie wir – weil wir es können. Weil wir gern ins Reich der Töne eintauchen … Die Form ist viel bleibender als die Funktion. Keine Erklärung wird je das unendliche Bedürfnis zu singen auslöschen.

Nachtigall

Ein Vogel, der in Europa die Musiker oft inspiriert hat und bis in die Moderne hinein inspiriert, ist und bleibt die Nachtigall. Sie gilt als Singvogel par excellence und verkörpert in unserer Kultur neben der Schönheit auch die Reinheit der Liebe. Die Nachtigall verfügt nicht nur über viele Motive, sondern gehört auch zu den wenigen Vögeln, die reine Töne (also Töne ohne Obertöne) singen können. Vor allem ist sie aber ein ein großer Vortragskünstler.
Hier eine ganz kurze Barockeinspielung:

Du Angenehme Nachtigall, Reinhard Keiser aus: Birds. Vögel in der Barockmusik

Und hier ein kleiner Ausschnitt aus einer nächtlichen Originalaufnahme vom Wannsee, Berlin.
Ursprünglich ist die Nachtigall ein Vogel der Auwälder, inzwischen aber in Berlin in großer Zahl präsent.
Im Bayrischen Voralpenland glänzt sie leider zumeist durch Abwesenheit.

Eine Nachtigall (am Beginn überlappen sich ganz kurz zwei) singt um 23 Uhr aus einem Gebüsch am nächtlichen Wannsee

Längere Aufnahmen aus Berlin in xeno-canto: Wannsee, Volkspark Teil 1, Volkspark Teil 2

Singende Nachtigall. Aus „Singt die Nachtigall im Dialekt?“ Deutschlandfunk zum Citizen-Science-Projekt „Forschungsfall Nachtigall“ des Naturkundemuseums Berlin

Ältere Nachtigallen beherrschen bis zu 200 verschiedene Strophentypen – flötend und trillernd, schmetternd, gurgelnd, schluchzend (dunkel: tuk tuk tuk tuk) – charakteristisch ist eine Reihung aus gedehnten reintonigen Flötenenelemten (dü dü dü dü …), die crescendoartig ansteigt.

Junge Nachtigallen beginnen schon während ihrer ersten Afrikareise etwa ab November sich in Klänge einzuüben, die sie als Küken im Nest gehört haben. Sie singen dann viele kleine Elemente – Subsongs – die sie im Laufe des Winters Stück für Stück zusammensetzen und strukturieren. (Untersuchungen der Ornithologin Prof. Silke Kipper, FU Berlin, seit 2015 TU München).

Als Beispiel für die Integration der Nachtigallengesänge in die moderne Musik bringe ich hier eine alle technischen Mittel nutzende kurze Einspielung aus „Nighthingale“ des Italieners David Monacchi. Er ist Professor für Elektronikmusik in Foggia, Italien, nimmt die Vogelstimmen, die ihn inspirieren und die er in seine Musik einfügt, selber auf und konzertiert öfter auch zusammen mit Bernie Krause. Er nennt seine Musik Eco-acoustic compositions.

Kleiner Auszug aus David Monacchis Komposition „Nightingale“

Monacchi hat hier seine Nachtigallenaufnahme zunächst nur in sein Musikstück gleichen Namens integriert, dann jedoch verlangsamt, wodurch sie gleichzeitig in in eine tiefere Frequenz rutscht, und das Ganze mit Geräuschen und Instrumentalmusik, zumeist elektronisch erzeugt, sozusagen verwirbelt.
Wenn man Vogelstimmenaufnahmen verlangsamt, hört man sehr viele Einzelheiten heraus, die dem Auflösungsvermögen des menschlichen Ohrs sonst entgehen, uns also gewöhnlich verborgen bleiben – denn Vögel können nicht nur schneller singen als Menschen, also mehr unterscheidbare Töne und Klänge pro Zeiteinheit von sich geben, sondern dementsprechend auch differenzierter hören. Mit anderen Worten: Vögel sind nicht nur mit Flügeln und Schnabel, sondern auch mit ihren Ohren sehr viel flinker als wir.

Hier noch einmal ein Ausschnitt der Wannsee-Aufnahme mit dreifach vermindertem Tempo: dadbei rutschen die Frequenzen automatisch in tiefere Tonlagen – und da haben wir den Monacchi-Effekt!

Noch einmal die Nachtigallenaufnahme vom Wannsee, mit vermindertem Tempo abgespielt

Das nutzt natürlich auch die moderne Ornithologie, um Einzelheiten des Vogelgesangs zu erforschen. Sie stellt Vogelgesänge längst nicht mehr mit Noten oder Wortumschreibungen, sondern mit Sonagrammen dar und macht so Einzelheiten nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar.

Beginn der Wannsee-Aufnahme im Sonagramm. Am Anfang deutlich die Überlappung durch eine zweite Nachtigall

Sonagramme (Spektrogramme) sind Diagramme, aus denen man die Tonhöhe (linke Leiste, kHz), den zeitlichen Ablauf (obere Leiste, sec) und die relative Lautstärke (Schwärzungs- bzw. Rötungsgrad) eines Schallereignisses ablesen kann..

Rautavaara und die Musik der nordischen Vögel

Ein bei uns weitgehend unbekannter Musiker, der aber in seiner Heimat Finnland zu den berühmtesten gehört, ist Einojuhani Rautavaara (1928-2016), der sich u.a. mit Zwölftonmusik beschäftigt hat. Er war ein großer experimenteller Musiker und ein ebenso großer Vogelliebhaber und -kenner und hat im hohen Norden ebenfalls eigenhändig Tonaufnahmen gemacht. Sein berühmtes Konzert für Orchester und Bandaufnahmen heißt „Cantus arcticus“. Fester Bestandteil der Komposition ist ein Tonträger mit Rautavaaras Tonaufnahmem von arktischen Vögeln, das immer mitlaufen muss, wenn ein Orchester dieses Stück spielt.
Hier ein Ausschnitt:

RAUTAVAARA – Cantus arcticus – aus I The Bog u. III Swans migration: 0:16 Regenbrachvögel im Sumpf (Bog), 0:54 Kraniche, 01:31 ziehende Singschwäne

Rautavaara hat seine Komposition nicht nur mit Tonbandaufnahmen von Vogelstimmen unterlegt, sondern seine gesamte Komposition rankt sich um den Klangcharakter der nordischen Vogelstimmen und ist ganz darauf und auf die umgebende Landschaft abgestimmt – man hört einfach, das kann nicht am Gardasee gewesen sein. Eine Assimilierung vom Feinsten!

Übrigens hat er die Singschwanstimmen (am Ende des Ausschnitts) zweifach herunteroktaviert und dadurch verfremdet.
Zum Vergleich Originalaufnahmen von Singschwänen, die bei uns am Lech überwintern:
♫ SINGSCHWÄNE, Posaunenklänge mit Duettgesängen am 1. Januar 2017, 01.01.2017 Lechstau 92 um 12:50 Uhr

Der Star – ein Musiker der Moderne – Vögel als moderne Musiker

Ich erinnere noch einmal daran, dass Musik aus organisierten Klängen besteht und dass es sich seit der Moderne (einschließlich des Jazz) dabei nicht nur um harmonische Klänge und Akkorde handelt, wie sie die Entwicklung der abendländisch-europäischen Musik bestimmt haben, sondern dass harmonische Klänge mit für unsere Ohren ungewohnten oder disharmonischen Klänge und Geräuschen vielfach gemischt werden.

Hierin ist der Star, der auch schon Mozart zu ungewöhnlichen Klängen inspirierte, ein Star unter den modernen Musikern wie unter den virtuos singenden Vögeln – er mixt Klänge und Geräusche so souverän und singt so komplex, dass die Strukturen seines Gesanges auch von der Forschung (trotz all der zur Verfügung stehenden technischen Mittel) noch nicht entschlüsselt werden konnten. Sein meist vierteiliger Gesang besteht aus wechselnden Imitationen, Variationen, Geräuschen, Pfiffen und Klängen und folgt offenbar einer eigenen Starengrammatik. Und natürlich kann er auch zweistimmig singen, zweistimmig zugleich aus ein- und derselben „Kehle“, der Syrinx, heraus. Ich habe ihm im Booklet zu meiner zweiten CD eine extra Seite gewidmet.

♫ Singende Stare im März um ihre Brutkästenauf einem Kinderspielplatz. In der ersten halben Miute sind deutlich 4 Phasen zu hören, dann drängt sich der Star mit dem einmaligen rhythmisierten Rattermotiv in den Vordergrund ♫

2018 ist der Star Vogel des Jahres geworden. Denn leider sind auch seine Zahlen im Sinkflug begriffen, obwohl es in Bayern noch zwischen 0,5 und. 1,2 Millionen Brutpaare gibt. Unser kleines Dorf Hagenheim ist derzeit noch ein regelrechtes Starendorf, wo die Starenkästen jedes Jahr mit mehr als 50 Brutpaaren besetzt sind.

Vögel sind also hier und da wohl klassische, in erster Linie aber sehr moderne Musiker, und zwar seit Tausenden von Jahren. Was eine ziemliche Untertreibung ist! Der Beginn der Entwicklung der Vogelgesänge wird von der Wissenschaft auf mindestens 30 Millionen Jahre zurückdatiert – mit Sicherheit haben sie schon vor dem Auftritt des Menschen auf diesem Globus gesungen!
Und sie beherrschen alle musikalischen „Tricks“!
Zunächst einmal Geräusche und Instrumentallaute, die sie mit ihren Stimmlautenen mischen:

INSTRUMENTALLAUTE: Spechttrommeln, Flugschall von Höckerschwänen, spektakuläres Flügelknallen von Manakinmännchen (Orangebandpipras, Manacus aurantiacus) in Costa Rica

Hinzu kommt die hohe Kunst der Viertel- und Dritteltöne, Glissandi, Koloraturen, kollektiven und individuellen Improvisationen, Mischungen von Klangfarben und Nachhalleffekte, Intonation und Transposition, und, dank ihres besonderen doppelten Stimmorgans, der Syrinx, Zweistimmigkeit. Und Imitation und Assimilation artfremder Vogelstimmen.
Dazu einer meiner Lieblingsvögel aus unserer Landschaft, der virtuose Sumpfrohrsänger:

♫ Ein SUMPFROHRSÄNGER singt Mitte Juni einen Mix aus einer Vielzahl von identifizierbaren Imitationen ♫

Und hier eine exotischer Sopransänger aus dem malaysischen Regenwald, der uns eines frühen Morgens kurz nach Aufbruch zu einer langen Exkursion mit einer meisterhaften Koloratur überraschte (Gesamtaufname bei x.-c.):

Eine SCHAMADROSSEL singt im malaysischen Regenwald eine kunstvolle gebundene Koloratur



Olivier Messiaen und die Freiheit des Vogelliedes

Raffinierte technische Möglichkeiten zum Festhalten der Vogelstimmen hatte Olivier Messiaen (1908 – 1992), der große französische Musiker, noch nicht. Er hatte ein absolutes Gehör mit einem ganz außerordentlichen Auflösungsvermögen und konnte ca. 700 Vogelrufe und -gesänge nach ihrer Artzugehörigkeit unterscheiden. Wenn er die französischen Landstriche durchstreifte (Camargue, Bretagne, Alpen, Pyrenäen, Champagne, Auvergne, Charente), transkribierte er die Vogellieder mit Hilfe einer speziellen, durch Zeichen erweiterten Notenschrift sehr genau. Erst in seinen späten Jahren standen ihm Tonaufnahmegeräte zur Verfügung.

Er war ein Pionier der zeitgenössischen Avantgarde (Zwölftonmusik, serielle Musik) – und nach eigener Aussage erschien ihm nichts avantgardistischer als der Gesang der Vögel und nichts bewunderswerter als die souveräne Freiheit des Vogelliedes.

Olivier Messiaen: Le Loriot, Partitur-Anfang

Wenn man seine berühmte Klavierkomposition Catalogue d’Oiseau anhört, in der er Vögel der französischen Landschaften porträtiert hat, so ist es auch für Ornithologen erst einmal schwer, arttypische Vogelrufe oder -gesänge zu erkennen. Denn da wird nichts einfach und offenkundig kopiert, imitiert oder assimiliert. Messiaen war nämlich darum bemüht, in seiner Musik die Vogelstimmen genauer, als es die Wissenschaft kann, darzustellen, weil er sie als das wahre, verlorene Gesicht der Musik verstand, das es für spätere Zeiten zu retten gilt. Er transkribierte mit der jeweiligen Stimme eines Vogels auch das Umfeld – die Laute der anderen Vögel, den gesamten Klang- und Lichtraum, in dem er ihn erlebte, das ganze Habitat mit seinen vielfältigen Stimm- und Farbverflechtungen.

Ich habe im Folgenden die einzelnen Vogeldarstellungen Messiaens aus seinem Pirolporträt Le Loriot im Catalogue d‘ Oiseaux hintereinander geschnitten:

Messiaens Vogelmotivporträts aus Le Loriot im Catalogue d’Oiseau: 1) Pirol 2) ab 00:06: Zaunkönig 3) ab 00:13: Rotkehlchen 4) ab 00:17: Amsel 5) ab 00:25: Singdrossel 6) ab 00:32: Zilzalp 7) ab 00:42: Gartengrasmücke. Ab 00: 54 singt eine live aufgenommene Gartengrasmücke (mit langer Überschneidung)

Natürlich ist es viel leichter, am Klavier das Hämmern des Zilpzalps als die Flötentöne eines Pirols nachzuspielen und an die Möglichkeiten dieses Instruments anzupassen. So musste Messiaen die hellen und schnellen Stimmen der Vögel für seine Klavierkomposition hinunteroktavieren und verlangsamen.
Jetzt ist es vielleicht leichter, dem kleinen Ausschnitt von Le Loriot aus dem Catalogue zu folgen, den ich mit einer originalen Pirolaufnahme vom Ammersee Süd verbunden habe. Es ist erstaunlich, wie gut das zusammenpasst!

Dieser Ausschnitt beginnt mit Messiaens Zaunkönigporträt, dann folgen Singdrossel und Rotkehlchen, dann wird dazu die Originalaufnahme vom Ammersee (u.a. mit Zilpzalp, Buchfink, Stieglitz, Zaunkönig, Fitis) eingespielt

Am Anfang ist kurz, im Auftakt,gleich die schwere Erdgebundenheit der Bäume zu hören und gleich im Kontrast dazu das Goldgelb des Pirols, das zwischen den Blättern leuchtet und den Klang seiner Stimme und die der ringsum singenden Vögel färbt …

Messiaen hat offenbar, indem er den Vögeln zuhörte, daraus einen Großteil seiner eigenen Musik entwickelt: Melodien, Rhythmen, Harmonien, Klangfarben und Bauformen, Tempi und Dynamik … und so die Kompositionsregeln der Musik erweitert! Denn wenn Komponisten sich von Vogelstimmen inspirieren lasssen, haben sie im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: entweder sie passen die Vogellieder, insbesonde ihre Melodien, in die musikalische Sprache ihrer Zeit ein – sh. Barock – oder sie erweitern durch genaues Anhören der Naturklänge die Regeln und Möglichkeiten ihrer Musik.

David Rothenberg, Berliner Nachtigallen und Leierschwänze

Was man nie aus den Augen bzw. Ohren verlieren sollte: Vögel richten ihre Gesänge nicht an uns, sondern an andere Vögel, an die für uns so andersartige Vogelgemeinschaft, in der sie leben. Das macht ja die Vogelmusik für uns so faszinierend und verlockend exotisch zugleich.
Womit ich zu einem besonders faszinierenden Musiker komme, David Rothenberg aus den USA, Jazzmusiker, Komponist, Philosophieprofessor, Vogelliebhaber …, der diese Grenze überschreitet, indem er mit wild lebenden Vögeln zusammen musiziert. Sowohl mit Nachtigallen in Berlin („jetzt ist diese Nachtigall für die Wissenschaft verdorben“, sagte eine Wissenschaftlerin, die bei solch einem crossover-Konzert dabei war) als auch mit wild lebenden Leierschwänzen in Australien. Wo auch der 80jährige Messiaen, geführt von demselben australischen Ornithologenwie Rothenberg, Syd Curtis, 1988 einen Leierschwanz gehört und mit Hilfe seiner Notenschrift transkribiert hatte.

Leierschwänze brauchen 5 Jahre, bis sie geschlechtsreif sind und ihre Gesänge – klare Kompositionen mit vielen Imitationen der umgebenden Vögel – vervollkommnet haben. Dazu führen sie auf ihren Naturbühnen regelrechte Tanzrituale auf. Sie wurden erst nach langen Diskussionen von den Wissenschaftlern den Singvögeln zugeordnet.

David Rothenberg (Klarinette) und Michael Pestel (Flöte): Trio Menura – live gespielt im Australischen Busch zusammen mit einem Graurückenleierschwanz (Superb Lyrebird)

David Rothenberg schreibt: „Sie musizieren immer noch allen Ernstes mit Vögeln? fragen mich die Menschen. Und ich antworte ihnen, dass dies dies ernsthafteste, tiefstgehendste … Musik ist, die ich mir vorstellen kann, und dass ich vor allem deshalb mit Vögeln musiziere, um den bedeutendsten, zeitlosen Klängen des Lebens näher zu kommen. … Keine Antwort kann das Geschenk des Gesangs auslöschen, die schlichte Gabe von Mensch zu Tier und umgekehrt.“

Bücher, Musikquellen (kleine Auswahl)

lesen

H.-H. Bergmann, H.-W. Helb, Sabine Baumann: Die Stimmen der Vögel Europas. Mit CD. AULA-Verlag 2008

Csaba Bornemisca: Musik der Vögel. Braumüller Wien 1999

Silke Kipper: Die Nachtigall. Ein legendärer Vogel und sein Gesang. Insel Verlag 2022

Ambrose G.H. Pratt: Menura. Prächtiger Vogel Leierschwanz. Mit CD. Friedenauer Presse Berlin (dtsch. Übers.) 2011

Walter Streffer: Klangsphären. Motive der Autonomie im Gesang der Vögel. Verlag Freies Geistesleben 2009

Heinz Thiessen: Musik der Natur. Über den Gesang der Vögel. Angora Verlag 1978

David Rothenberg: Warum Vögel singen (dtsch. Übers.), Spektrum Sachbuch, Springer 2007

hören

Olivier Messiaen: Catalogue d’Oiseaux. Robert Muraro (CD Accord 1999) – und zahllose andere Einspielungen

Dorothee Mields, Stefan Temmingh: Birds. Vögel in der Barockmusik (CD dhm – deutsche harmonia mundi 2015)

David Monacchi: eco-compositions (EMF CD 074 2008)

Einojuhavi Rautavaara: Cantus Arcticus – Angel of Dusk – String Quartet No.2 (CD apex Finlandia Records 2564 69890-8)

David Rothenberg und Michael Pestel live in ihren Studios, wo sie gemeinsam „Vogelmusik“ machen

David Rothenberg: why birds sing (CD Terra Nova Music USA)

David Rothenberg, Korhan Erel: BERLIN BÜLBÜL (CD Terra Nova Music USA TN511 u. Gruenrekorder Hanau Gruen 158/LC 0948)

Vogelgesänge – eine Einführung

Amselmännchen im März

Vogelgesänge – eine Einführung

Für viele Menschen ist das, was die Vögel von sich geben, Hintergrundgeräusch, im besten Fall Piepsen oder Zwitschern. Für die Vogelkundler rufen oder singen die Vögel, und ihr Gesang dient allein der Revierbehauptung und Weibchenanlockung.

Durch mein eigenes jahrelanges intensives Lauschen bin ich davon überzeugt, dass Vogelgesänge zwar a u c h diese Funktion haben – aber dafür allein würden schon ein paar Schreie, Krächzer, Piepser ausreichen – unterschieden durch Tonhöhe, Klangfarbe, Lautstärke, Länge. Und was immer wieder vergessen wird: auch viele Vogelweibchen können singen!

Schon Alwin Voigt schrieb in seinem Exkursionsbuch zum Studium der Vogelstimmen, einem Klassiker, 1894 zum ersten Mal erschienen und seitdem immer wieder neu aufgelegt (auch ich habe es noch als Schülerin mit mir herumgeschleppt): Der Vogel singt infolge geschlechtlicher Erregung, also am fleißigsten, wenn diese ihren höchsten Stand erreicht, zur Zeit der Fortpflanzung – das ist altbekannt. Indessen, wer genauer nachforscht erhält bald Belege genug, dass auch andere Anlässe einen Vogel zum Singen anregen können. … Paarungsrufe von Meisen und Kleibern kann man an jedem schönen Morgen mitten im Winter zu hören bekommen. Oder wer wollte von einer Sangesperiode der Sperlinge reden? Zwar macht sie die Härte des Winters etwas ruhiger, aber sobald ein milder Tag kommt, setzt das Schwatzen in den Morgen- und Abendstunden wieder kräftig ein, und wenn’s einem in der wärmenden Sonne recht behaglich wird, stammelt er auch ein Liedchen.

♫ Haussperlinge, auf Büschen hockend und im großen Chor sonnenselig singend und schwatzend ♫

Tatsache ist, dass große Sänger wie Drosselvögel, Stare, Grasmücken, Spötter Frühjahr für Frühjahr neue Motive, entwickeln und weiter variieren, dass sie modifizieren, imitieren, komponieren. Dafür wachsen ihnen sogar neue graue Hirnzellen – für Zebrafinken ist das belegt.

Olivier Messiaen, ein exquisiter Vogelkenner, hat immer wieder betont, dass Vögel im Laufe der Evolution – seit etwa 30 Millionen Jahren, also lange bevor der Mensch die Weltbühne betrat – alle Kunstgriffe und -kniffe entwickelt haben, die auch unsere menschliche Musik kennzeichen: Phrasen, Vorschlag, Takt, Rhythmen, Tonarten, Modi, Viertel- und Dritteltöne, Accelerando, Ritardando, Crescendo, Glissandi, Triller, Koloraturen, Intonieren, Transponieren …
Messiaen: Ich habe den Eindruck, dass die Vögel alles gefunden haben, sogar die Mischungen von Klangfarben, die man heute sucht, und Nachhalleffekte.

Dass Vögel so kunstvoll singen, mit diesem Drang, immer wieder Neues auszuprobieren und sich ins Vielfältige zu verzweigen, ist etwas, was die Wissenschaft nicht erklären kann.
Ich bin davon überzeugt, dass Vogelgesänge in ihrer wilden Vielfalt und Ursprünglichkeit große Lobgesänge auf die Schöpfung sind. Schöpfungsklänge, könnte man sagen, die sich in jedem Moment neu erfinden. Wenn man ihnen wirklich zuhört, begreift man das schnell und wird davon ergriffen und fühlt sich zurück geführt zum Ursprung der Schöpfung. Am Anfang war das Wort, heißt es in der Bibel. Und das Wort war Klang, lässt sich nahtlos anschließen.

Jeder Vogel ist sein eigenes Leitmotiv, sagt Messiaen. Ein Vogel, und sei sein Laut noch so einfach, wiederholt sich nie. Genau das macht die Lebendigkeit und Faszination von Vogelgesängen aus.

Amsel & Co. im Innenohr

Wer Ohren hat zu hören, der höre! Ein Ratschlag, eine Weisheit, die längst ungehört verhallt ist.
Obwohl Vögel nicht so sprechen, wie wir es verstehen, sind sie in der Lage, in komplexer Weise zu rufen, zu singen und zu musizieren und sich dabei sehr erfolgreich miteinander zu verständigen. Was wir davon mitbekommen, sind leider nur Bruchstücke – Getwitter eben in unseren menschlichen Ohren.

Zum Beispiel Amseln, die uns immer noch sehr nahe sind – diese schwarzen Drosseln, die aus der Schwärze der Wälder zu uns gekommen und in unseren Dörfern und Vorstädten, Park- und Gartenlandschaften heimisch geworden sind. Wo sie, seit 150 Jahren, ganz nahebei auf Dächern und Baumspitzen singen und konzertieren.

Eine Amsel singt morgens um 6:00 Uhr in den Weinbergen von Eppan

Weil sie scheinbar so alltäglich sind, wird meistens verkannt, dass sie noch viel kunstvoller und differenzierter singen, als ein aufmerksames menschliches Ohr es wahrzunehmen vermag. Denn obwohl unser Hörvermögen feiner gestuft und gestimmt ist als unser Sehvermögen, reicht es nicht an das Auflösungsvermögen der Vogelohren heran.
Das Auge tastet Oberflächen ab, springt von Blatt zu Blatt und folgt der Bewegung des Vogelschnabels. Während das Ohr den Raum in sich einlässt, der von Klängen geformt und gestaltet wird.
Das Auge fügt Licht und Schatten zu einem bewegten Bild zusammen – das Ohr holt Wind und Lied herein, so dass sie im Innenohr singen.

Vögel singen für andere Vögel! Dennoch können ihre Gesänge auch den Menschen „Ohrenlichter“ aufstecken und belebend und beglückend sein. Wenn der Raumklang der Vogellaute erst einmal eingedrungen ist ins Ohr – und damit zwangsläufig auch unter die Haut – öffnet sich eine neue Welt. Eine Welt, die uns immer schon umgab, die wir nur vergessen haben, eine freigiebige Welt, die keinerlei Absichten verfolgt. Musik frei Haus, Garten, Spaziergang in unendlichen Klangvariationen, in denen das Leben vibriert, nicht das Rattern von Maschinen.

Der Nachtigall lauschen

Viele Vögel haben es in der Kunst der Komposition, Variation und Improvisation zu großer Meisterschaft gebracht, unsere heimischen Allerwelts-Amseln allen voran. Obwohl auch die Kohlmeise sich als ein großer Variationskünstler entpuppt. Wenn man ihr und ihren Vogelgenosssen nur lange genug zuhört und ihre Themenwechsel verfolgt, versteht man schnell, dass jeder Vogel sein eigenes Leitmotiv ist. Das gilt für die heimischen Nachtigallen, Sperlinge, Rotkehlchen und Rabenkrähen ebenso wie für die Schamadrosseln und Orpheuszaunkönige des tropischen Regenwaldes.
Gar nicht zu reden von Spöttern wie dem Sumpfrohrsänger oder Staren, diesen Flötenmeistern und Bauchrednern, die im Frühjahr wahre Jamsessions zum Besten geben.

Fünf Stare konzertieren auf dem Dorfspielplatz um ihre Nistkästen herum. Ab 01:20 mischt eine Elster ihr raues Schackern dazwischen

Obwohl die Töne und Klänge, die Vögel hervorbringen können, an ein arteigenes Grundprogramm gebunden sind, kennzeichnet auch den scheinbar einfachsten Vogellaut stets das vibrierende Neuerfinden von Nuancen: das ist ja schon Thema und Leitmotiv in Hans Christian Andersens Kunstmärchen von der Nachtigall und dem Kaiser von China, der mit einem aufziehbaren mechanischen Vogel die lebendige Nachtigall vergrämt:
Aber die armen Fischer, welche die wirkliche Nachtigall gehört hatten, meinten: „Das klingt wohl ganz hübsch, es läßt sich auch eine Ähnlichkeit der Melodie nicht ableugnen, aber es fehlt doch etwas. Was es nur sein mag?“

Eine Nachtigall singt in einer Mittsommernacht am Berliner Wannsee (kleiner Ausschnitt)

Ja, was mag es sein, das Lebendige, das immer wieder neu klingt, trotz tausendfacher Wiederholungen, die, wenn man genauer lauscht, tausendfache Modifikationen sind? Niemand kann da eine eindeutige Antwort geben.
Wer aber Ohren hat zu hören, der höre! Das Ergebnis wird erstaunlich sein.