Das Braunkehlchen – Vogel des Jahres 2023

Das Braunkehlchen – Vogel des Jahres 2023

Ein Braunkehlchenmännchen singt in den Raistinger Wiesen zur Zeit der Irisblüte

8. Januar 2023

Im Oktober letzten Jahres stand es fest: Das Braunkehlchen, dieser so wenig bekannte Wiesenbrüter, wird 2023 besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Denn die beiden großen Naturschutzverbände → NABU (Naturschutzbund Deutschland) und der bayrische LBV (Landesbund für Vogel- und Umweltschutz) haben ihn zum Vogel des Jahres 2023 ausgerufen. In eineröffentlichen Wahl, an der jedermann teilnehmen konnte, der daran interessiert war, hat der kleine vorwiegend braune Vogel, an dem nur der der dicke weiße Streifen überm Auge auffällig ist, die weitaus meisten Stimmen auf sich versammelt.

Die Aufmerksamkeit ist natürlich medial. Denn wer kennt ihn, wem fliegt er noch übern Weg? Wem sind gar seine Gesänge vertraut? Es ist immer dasselbe leidige Lied: Dem Wiesenschmätzer, wie er früher genannt wurde, fehlen die artenreichen feuchten Wiesen, die dem Flächenverbrauch und der intensivierten Bewirschaftung zum Opfer fielen und fallen. Nur hier findet er die Spinnen und Larven, Würmer und kleinen Schnecken, die er braucht, um zu überleben und seine Brut erfolgreich groß zu ziehen.

In meiner näheren Umgebung sehe ich Braunkehlchen nur auf dem Durchzug – hier Ende August am Rande der Thaininger Kiesgrube

Zu meiner Schulzeit war das Braunkehlchen auf dem Lande ein wohlvertrauter Allerweltsvogel, liebevoll Wiesenclown genannt. Auf meinen Streifzügen durch ein Mosaik von Feuchtwiesen, Feldern und Mooren bin ich ihm ständig begegnet – dazu zahllosen Rebhühnern, Haubenlerchen, Wiesenpiepern, Bekassinen, nicht zu reden von einem Himmel voller Lerchengesänge.
Alwin Voigt war d e r Vogelstimmenexperte vergangener Zeiten. Ohne Tonaufzeichungs-instrumente allein auf seine Ohren angewiesen, hat er 1894 die erste Auflage seines Exkursionsbuches für das Studium der Vogelstimmen herausgegeben. Ich besitze noch die 10. Auflage von 1950. Darin heißt es zum braunkehligen Wiesenschmätzer:
Es bewohnt weder Wälder noch Park und Garten, sondern Wiesenlandschaften, und zwar von den unabsehbaren Wiesen- und Luchflächen Norddeuschlands bis herauf zu den Matten der Alpen. Bald hier, bald dort erscheint eins auf einem Hügelchen, auf der Spitze einer hohen Pflanze oder eines Pfahles und zeigt keine allzugroße Scheu, wenn man behutsam näher kommt, um seinen Anblick zu genießen. Die zart gelbbraune Brust des Männchens, der schwärzliche Querfleck unter dem Auge und das blendende Weiß darüber, das hebt sich so sauber ab gegen die dunkle Oberseite, dass es eine rechte Augenweide ist.

Da kann man nur seufzen.
Heutzutage ist das Braunkehlchen besonders in Bayern selten geworden und gilt als stark gefährdet. Die meisten Tonaufnahmen, die ich in xeno-canto, dem weltweiten Vogelstimmenforum, eingestellt habe, stammen dementsprechend vorwiegend aus geschützten Gebieten.
Warum schreibst Du in a protected area for Whinchats, fragte mich ein Schwede zu meinen Tonaufnahmen aus den Raistinger Wiesen. Ich staunte über sein Staunen, bis mir klar wurde, dass im Offenland seiner nordischen Heimat das Braunkehlchen nach wie vor, wie in alten Zeiten?, ein weit verbreiteter Allerweltsvogel ist.

Anfang Juni 2022 in den Raistinger Wiesen.Die zart
gelbbraune Brust des Männchens, der schwärzliche Querfleck unter dem Auge und das blendende Weiß darüber … „

Die Raistinger Wiesen am Ammersee sind so, wie Braunkehlchen sie brauchen und mögen: blüten- und strukturreich, mit dichter Krautschicht für die Nester in den Altgrasstreifen. Und mit Hochstauden und Zaunpfählen, die als Sing- und vor allem als Ansitzwarten genutzt werden. Hier haben sie einen guten Überblick übers Gelände. Von hier aus können sie am besten ihre hurtigen Jagdflüge starten.

Am Rande des Raistinger Schutzgebietes zu stehen, die schönen Schmätzer in den Altgrasstreifen oder auf hohen Halmen zu sichten – ihren kurzen, aber abwechslungstreichen Strophen zu lauschen – ihrem blitzschnellen Verschwinden und Wiederauftauchen zuzuschauen: das ist für mich reines Glück. Eine dieser Senkrechten in der Zeit, wie Arnulf Conradi das so überaus treffend formuliert hat. Im Strömen der Zeit also jener unschätzbare Moment, der innehält und die Uhr und sich selbst schlicht vergessen lässt.
Oft mischen Schwarzkehlchen, Feldlerchen, Wiesenpieper ihre Lieder in die braunkehligen Gesänge, manchmal schlagen dazu Wachteln, trillern Schwarzmilane, quärren Lachmöwen – und es erklingt ein Freiluftkonzert vom Feinsten.

Gleich zu Anfang tirilieren Feldlerchen, beginnt ein Braunkehlchen mit seinen kurzen Strophen, quärren Lachmöwen. Dann (ab 0:31) singt überraschend ein Brachvogel – ja, er singt, obwohl er bekanntlich kein Singvogel ist. Seine beiden schönschaurigen Flöten- und Trillerstrophen, anschwellend und abfallend, sind aus der Weite und Melancholie feuchter Wiesenlandschaften geformt, das ist unüberhörbar. Ab 1:15 mischt ein Wiesenpieper seinen Fluggesang dazu – und wird übertönt und abgelöst von einer steigenden Feldlerche.

Wer’s länger mag: Hier singt Anfang Juni ein Braunkehlchen seinen Frühgesang in den Raistinger Wiesen.

♫ Braunkehlchen-Gesang in den Raistinger Wiesen am 5. Juni 2022 um 6:42 ♫

Seine individuelle Note ist ein hübscher „Schnarr-Triller“ am Beginn vieler seiner kurzen, aber einfallsreichen Strophen, z.B. in 0:33, 0:44 … 4:10, 4:33 usw. Und es imitiert! Den Hausrotschwanz z.B. in 3:56. Begleitet wird es von Goldammer und Wachteln (gleich am Anfang), Feldlerchen, Feldgrillen & Co. Ebenfalls leise in 6:16 ein Brachvogelgesang.

Und hier singt ein Braunkehlchen Mitte Juni im Murnauer Moos auf einem kahlen Pappelast gleich neben der Ramsach, begleitet von Buchfink, Amsel und flüggen Jungmeisen:

♫ Ein Braunkehlchen singt im Murnauer Moos, 18. Juni 2018 9:05 ♫

Braunkehlchen auf altem Weidezaun am Egelsee bei Hofstetten

Die schönsten Braunkehlchengesänge habe ich vor Jahren ganz in der Nähe meines Wohnorts, im Egelsee-Gelände mit seinen viel zu kleinen, aber feuchten Wiesenflächen aufgenommen. Hier ziehen die Steinschmätzer und Braunkehlchen gewöhnlich nur durch, knicksen eine kleine Weile auf den Weidezäunen, unternehmen ihre Jagdflüge, sind schnell wieder verschwunden. Aber das Männchen, das in der folgenden Aufnahme singt, hatte nebst einem großen Repertoire an Imitationen offenbar die Hoffnung, ein Weibchen zu finden, sang und warb unverdrossen mindestens zwei Wochen lang und fand trotz größter Anstrengung keine Resonanz:

Vögel sind Individualisten, auch und gerade in ihren Gesängen. Dieses Braunkehlchen sitzt eines Tages Anfang Juni hier und da auf Weidezäunen, singt stundenlang und ist offenbar unverpaart. Es ist ein sehr guter Sänger, der viele Imitationen integriert hat – verkürzt und auf Braunkehlchenweise, doch gut erkennbar: Dorngrasmücke (00:03, 00:06, 02:16, 02:26), Buchfink (00:20, 01:07, 3:22, 3:33), Hausrotschwanz (00:43, 01:02,01:30, 01:39, 01:55, 01:59), Rohrammer (01:15, 02:28, 02:36), Zilpzalp (01:44, 01:50, 02:32), Grauammer (02:40, 02:46). Im Hintergrund Feldgrillen.

Seitdem habe ich in diesem Areal nie wieder eines singen gehört.
Die Wahl im Oktober zum Vogel des Jahres 2023 fand natürlich in Abwesenheit der Hauptprotagonisten statt. Die hatten mit einigem Glück schon, jeder für sich allein, die Sahara überflogen, um im tropischen Afrika zu überwintern: 5000 km von hier entfernt.

Wie macht so ein kleiner Vogel das bloß?

Der Kuckuck und alle Kehlchen sind zurückgekehrt ◄

Vogelgesänge – eine Einführung

Amselmännchen im März

Vogelgesänge – eine Einführung

Für viele Menschen ist das, was die Vögel von sich geben, Hintergrundgeräusch, im besten Fall Piepsen oder Zwitschern. Für die Vogelkundler rufen oder singen die Vögel, und ihr Gesang dient allein der Revierbehauptung und Weibchenanlockung.

Durch mein eigenes jahrelanges intensives Lauschen bin ich davon überzeugt, dass Vogelgesänge zwar a u c h diese Funktion haben – aber dafür allein würden schon ein paar Schreie, Krächzer, Piepser ausreichen – unterschieden durch Tonhöhe, Klangfarbe, Lautstärke, Länge. Und was immer wieder vergessen wird: auch viele Vogelweibchen können singen!

Schon Alwin Voigt schrieb in seinem Exkursionsbuch zum Studium der Vogelstimmen, einem Klassiker, 1894 zum ersten Mal erschienen und seitdem immer wieder neu aufgelegt (auch ich habe es noch als Schülerin mit mir herumgeschleppt): Der Vogel singt infolge geschlechtlicher Erregung, also am fleißigsten, wenn diese ihren höchsten Stand erreicht, zur Zeit der Fortpflanzung – das ist altbekannt. Indessen, wer genauer nachforscht erhält bald Belege genug, dass auch andere Anlässe einen Vogel zum Singen anregen können. … Paarungsrufe von Meisen und Kleibern kann man an jedem schönen Morgen mitten im Winter zu hören bekommen. Oder wer wollte von einer Sangesperiode der Sperlinge reden? Zwar macht sie die Härte des Winters etwas ruhiger, aber sobald ein milder Tag kommt, setzt das Schwatzen in den Morgen- und Abendstunden wieder kräftig ein, und wenn’s einem in der wärmenden Sonne recht behaglich wird, stammelt er auch ein Liedchen.

♫ Haussperlinge, auf Büschen hockend und im großen Chor sonnenselig singend und schwatzend ♫

Tatsache ist, dass große Sänger wie Drosselvögel, Stare, Grasmücken, Spötter Frühjahr für Frühjahr neue Motive entwickeln und weiter variieren, dass sie modifizieren, imitieren, komponieren. Dafür wachsen ihnen sogar neue graue Hirnzellen – für Zebrafinken ist das belegt.

Olivier Messiaen, ein exquisiter Vogelkenner, hat immer wieder betont, dass Vögel im Laufe der Evolution – seit etwa 30 Millionen Jahren, also lange bevor der Mensch die Weltbühne betrat – alle Kunstgriffe und -kniffe entwickelt haben, die auch unsere menschliche Musik kennzeichen: Phrasen, Vorschlag, Takt, Rhythmen, Tonarten, Modi, Viertel- und Dritteltöne, Accelerando, Ritardando, Crescendo, Glissandi, Triller, Koloraturen, Intonieren, Transponieren …
Messiaen: Ich habe den Eindruck, dass die Vögel alles gefunden haben, sogar die Mischungen von Klangfarben, die man heute sucht, und Nachhalleffekte.

Dass Vögel so kunstvoll singen, mit diesem Drang, immer wieder Neues auszuprobieren und sich ins Vielfältige zu verzweigen, ist etwas, was die Wissenschaft nicht erklären kann.
Ich bin davon überzeugt, dass Vogelgesänge in ihrer wilden Vielfalt und Ursprünglichkeit große Lobgesänge auf die Schöpfung sind. Schöpfungsklänge, könnte man sagen, die sich in jedem Moment neu erfinden. Wenn man ihnen wirklich zuhört, begreift man das schnell und wird davon ergriffen und fühlt sich zurück geführt zum Ursprung der Schöpfung. Am Anfang war das Wort, heißt es in der Bibel. Und das Wort war Klang, lässt sich nahtlos anschließen.

Jeder Vogel ist sein eigenes Leitmotiv, sagt Messiaen. Ein Vogel, und sei sein Laut noch so einfach, wiederholt sich nie. Genau das macht die Lebendigkeit und Faszination von Vogelgesängen aus.

Amsel & Co. im Innenohr

Wer Ohren hat zu hören, der höre! Ein Ratschlag, eine Weisheit, die längst ungehört verhallt ist.
Obwohl Vögel nicht so sprechen, wie wir es verstehen, sind sie in der Lage, in komplexer Weise zu rufen, zu singen und zu musizieren und sich dabei sehr erfolgreich miteinander zu verständigen. Was wir davon mitbekommen, sind leider nur Bruchstücke – Getwitter eben in unseren menschlichen Ohren.

Zum Beispiel Amseln, die uns immer noch sehr nahe sind – diese schwarzen Drosseln, die aus der Schwärze der Wälder zu uns gekommen und in unseren Dörfern und Vorstädten, Park- und Gartenlandschaften heimisch geworden sind. Wo sie, seit 150 Jahren, ganz nahebei auf Dächern und Baumspitzen singen und konzertieren.

Eine Amsel singt morgens um 6:00 Uhr in den Weinbergen von Eppan

Weil sie scheinbar so alltäglich sind, wird meistens verkannt, dass sie noch viel kunstvoller und differenzierter singen, als ein aufmerksames menschliches Ohr es wahrzunehmen vermag. Denn obwohl unser Hörvermögen feiner gestuft und gestimmt ist als unser Sehvermögen, reicht es nicht an das Auflösungsvermögen der Vogelohren heran.
Das Auge tastet Oberflächen ab, springt von Blatt zu Blatt und folgt der Bewegung des Vogelschnabels. Während das Ohr den Raum in sich einlässt, der von Klängen geformt und gestaltet wird.
Das Auge fügt Licht und Schatten zu einem bewegten Bild zusammen – das Ohr holt Wind und Lied herein, so dass sie im Innenohr singen.

Vögel singen für andere Vögel! Dennoch können ihre Gesänge auch den Menschen „Ohrenlichter“ aufstecken und belebend und beglückend sein. Wenn der Raumklang der Vogellaute erst einmal eingedrungen ist ins Ohr – und damit zwangsläufig auch unter die Haut – öffnet sich eine neue Welt. Eine Welt, die uns immer schon umgab, die wir nur vergessen haben, eine freigiebige Welt, die keinerlei Absichten verfolgt. Musik frei Haus, Garten, Spaziergang in unendlichen Klangvariationen, in denen das Leben vibriert, nicht das Rattern von Maschinen.

Der Nachtigall lauschen

Viele Vögel haben es in der Kunst der Komposition, Variation und Improvisation zu großer Meisterschaft gebracht, unsere heimischen Allerwelts-Amseln allen voran. Obwohl auch die Kohlmeise sich als ein großer Variationskünstler entpuppt. Wenn man ihr und ihren Vogelgenosssen nur lange genug zuhört und ihre Themenwechsel verfolgt, versteht man schnell, dass jeder Vogel sein eigenes Leitmotiv ist. Das gilt für die heimischen Nachtigallen, Sperlinge, Rotkehlchen und Rabenkrähen ebenso wie für die Schamadrosseln und Orpheuszaunkönige des tropischen Regenwaldes.
Gar nicht zu reden von Spöttern wie dem Sumpfrohrsänger oder Staren, diesen Flötenmeistern und Bauchrednern, die im Frühjahr wahre Jamsessions zum Besten geben.

Fünf Stare konzertieren auf dem Dorfspielplatz um ihre Nistkästen herum. Ab 01:20 mischt eine Elster ihr raues Schackern dazwischen

Obwohl die Töne und Klänge, die Vögel hervorbringen können, an ein arteigenes Grundprogramm gebunden sind, kennzeichnet auch den scheinbar einfachsten Vogellaut stets das vibrierende Neuerfinden von Nuancen: das ist ja schon Thema und Leitmotiv in Hans Christian Andersens Kunstmärchen von der Nachtigall und dem Kaiser von China, der mit einem aufziehbaren mechanischen Vogel die lebendige Nachtigall vergrämt:
Aber die armen Fischer, welche die wirkliche Nachtigall gehört hatten, meinten: „Das klingt wohl ganz hübsch, es läßt sich auch eine Ähnlichkeit der Melodie nicht ableugnen, aber es fehlt doch etwas. Was es nur sein mag?“

Eine Nachtigall singt in einer Mittsommernacht am Berliner Wannsee (kleiner Ausschnitt)

Ja, was mag es sein, das Lebendige, das immer wieder neu klingt, trotz tausendfacher Wiederholungen, die, wenn man genauer lauscht, tausendfache Modifikationen sind? Niemand kann da eine eindeutige Antwort geben.
Wer aber Ohren hat zu hören, der höre! Das Ergebnis wird erstaunlich sein.